Wednesday, March 01, 2006

»Es war eine antisemitische Tat«

beate klarsfeld über den Schock in Frankreich nach dem Mord an einem Juden

Teilen Sie die Befürchtung, dass der Foltermord an dem jungen Juden Ausdruck eines neuen Antisemitismus in Frankreich ist?
Fest steht, dass die große Mehrheit der Franzosen in einem Land leben will, in dem es keinen Antisemitismus und keinen Rassismus gibt.
Empfindet die jüdische Gemeinde das genauso?
Die jüdische Gemeinde hat Vertrauen in Frankreich. Während der Trauerfeier in der großen Pariser Synagoge standen Hunderte Menschen auf der Straße. Als Chirac und Villepin die Synagoge verließen, wurde aus der Menge spontan »Vive la France« gerufen. Das war auch eine Demonstration der Zusammengehörigkeit von Juden und Nicht-Juden in Frankreich. Aber die jüdische Gemeinde ist natürlich sehr besorgt, dass sich eine solche Tat wiederholen kann.
Ist der Mord an Ilan Halimi ein antisemitisches Verbrechen?
Auf jeden Fall. Er wurde ausgesucht, weil er Jude war. Dahinter stand das antisemitische Kalkül, dass seine Familie Geld hat. Als das Lösegeld nicht gezahlt wurde, hat man beschlossen, ihn unendlich leiden zu lassen. Ich bin überzeugt, die Tatsache, dass Ilan ein Jude war, hat die Täter in ihrer Grausamkeit noch bestärkt.
Woher kommt dieser Hass?
Es ist nicht mehr der Antisemitismus des Front National, der sich da Bahn gebrochen hat. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass die Täter und ihr Milieu überhaupt wissen, was Vichy bedeutet. Ihr Ressentiment speist sich aus anderen Konflikten. Die Entwicklungen im Nahen Osten haben viele radikalisiert. Die Ausschreitungen gegen Juden vor zwei, drei Jahren waren Ausdruck dieser Militarisierung. Youssof Fonal, der Bandenchef, ist sicherlich einer, der die Hamas unterstützen und Israel als Kolonialmacht bezeichnen würde.
Die antisemitischen Angriffe auf jüdische Schulen und Einrichtungen sind statistisch wieder rückläufig.
Es hat in der jüngeren Geschichte Frankreichs Antisemitismus gegeben, aber auch eine starke Gegenbewegung. Auf diese Gegenkraft müssen wir setzen. Als 1990 der jüdische Friedhof in Carpentras geschändet wurde, gingen rund 200 000 Menschen auf die Straße, um gegen Antisemitismus zu demonstrieren. Damals war eine Leiche ausgegraben und auf einem Schirm aufgespießt worden. Auch der Fall Ilan Halimi hat die französische Gesellschaft aufgerüttelt. Am Sonntag haben von links bis rechts alle demonstriert.
Wird die Hartnäckigkeit des Antisemitismus unterschätzt?
Man darf nicht vergessen, dass sich bereits viel geändert hat. Der Höhepunkt dieser positiven Entwicklung war die Rede von Chirac 1995, der sich zur Verantwortung Frankreichs für die Festnahmen von Juden bekannt und gesagt hat: Das waren nicht die Deutschen, sondern die Franzosen, natürlich auf Druck der Deutschen.

interview: kerstin eschrich und heike Runge

Beate Klarsfeld lebt in Paris und ist Gründerin der Gruppe »Söhne und Töchter der aus Frankreich deportierten Juden«

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