Friday, December 28, 2012

Daniel Pipes: Reden wir von der Türkei

Die Speisekarte auf meinem Flug mit Turkish Airlines Anfang des Monats versicherte den Passagieren, dass die Menüauswahl "kein Schweinefleisch enthält". Die Karte bot auch eine beträchtliche Auswahl an alkoholischen Getränken, darunter Champagner, Whiskey, Gin, Wodka, Raki, Wein, Bier, Likör und Cognac. Diese Kuriosität, am islamischen Recht, der Scharia, festzuhalten und es gleichzeitig zu ignorieren, symbolisiert die einzigartig komplexe öffentliche Funktion des Islam in der heutigen Türkei sowie die Herausforderung die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (mit ihrer türkischen Abkürzung "AKP" bekannt) zu verstehen, die die nationale Regierung des Landes seit 2002 beherrscht hat.
Politische Diskussionen über die Türkei tendieren dazu bei der Frage zu verweilen, ob die AKP islamistisch ist oder nicht. 2007 z.B. fragte ich: "Wie sehen die Absichten der AKP-Führung aus? Wird sie … ein geheimes islamistisches Programm beibehalten und einfach lernen ihre islamistischen Ziele zu tarnen? Oder hat sie diese Ziele tatsächlich aufgegeben und den Säkularismus akzeptiert?
Während gerade erfolgter Diskussionen in Istanbul erfuhr ich, dass Türken vieler Sichtweisen einen Konsens zu Premierminister Recep Tayyp Erdoğan erzielt haben: Sie sorgen sich weniger wegen seiner islamistischen Aspirationen als wegen seiner nationalistischen und diktatorischen Tendenzen.
Die Scharia in vollem Umfang anzuwenden, sagen sie, ist in der Türkei wegen des säkularen und demokratischen Charakters des Landes kein realisierbares Ziel, was es von anderen mehrheitlich muslimischen Ländern (außer Albanien, dem Kosovo und Kirgisien) unterscheidet. Da diese Realität akzeptiert wird, gewinnt die AKP immer mehr Wählerunterstützung, indem sie die Bevölkerung auf sanfte Weise dazu anhält immer tugendhafter, traditioneller, strenggläubiger, religiöser, konservativer und sittlicher zu werden. So ermutigt sie zum Fasten während des Ramadan und weiblicher Sittsamkeit, versucht sie von Alkoholkonsum abzubringen, Ehebruch zu kriminalisieren, stellte einen antiislamistischen Künstler vor Gericht, erhöhte die Zahl der religiösen Schulen, fügte Islam dem Lehrplan öffentlicher Schulen als Fach hinzu und führte bei Universitäts-Aufnahmetests Fragen zum Islam ein. In den Begrifflichkeiten von Turkish Airlines ausgedrückt, ist das Schweinefleisch bereits weg und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch der Alkohol verschwindet.
Die Anwendung des Islam, nicht das islamische Recht, ist das Ziel, sagten mir meine Gesprächspartner. Hände abhacken, Burkas, Sklaverei und Jihad gehören nicht zum Bild und das um so weniger nach dem Wirtschaftswachstum des vergangenen Jahrzehnts, das eine islamisch orientierte Mittelklasse stärkte, die Islam saudischer Art ablehnt. Ein Oppositionsführer stellte fest, dass fünf Distrikte Istanbuls "wie Afghanistan aussehen", doch das ist die Ausnahme. Ich hörte, dass die AKP anstrebt die Antireligiösität des Staates Atatürks rückgängig zu machen ohne den Staat zu untergraben; angestrebt wird eher die Schaffung einer Post-Atatürk-Ordnung als einer Anti-Atatürk-Ordnung. Sie strebt z.B. danach das bestehende Rechtssystem zu beherrschen statt ein islamisches zu schaffen. Der Kolumnist Mustafa Akyol meint sogar, die AKP versuche nicht den Säkularismus abzuschaffen, sonder sie "argumentiert für eine liberalere Interpretation des Säkularismus". Die AKP, heißt es, ahmt den 623 Jahre alten ottomanischen Staat nach, den Atatürk 1922 auflöste; sie bewundert sowohl dessen islamischen Orientierung als auch dass er den Balkan und den Nahen Ostens dominierte.
Diese neo-ottomanische Orientierung kann als Aspiration des Premierministers angesehen werden informeller Kalif zu sein, der den Schwerpunkt von Europa auf den Nahen Osten verschob (wo er ein nicht überzeugender Held der arabischen Straße ist) und das politische und wirtschaftliche Rezept der AKP anderen muslimischen Ländern anbietet, insbesondere Ägypten. (Erdoğan arugmentierte bei seinem Besuch dort zum Entsetzen der Muslimbruderschaft unerschütterlich für Säkularismus und betrachtet misstrauisch, wie Mohamed Morsi den Ägyptern die Scharia eintrichtert.) Zusätzlich hilft Ankra dem Regime im Iran Sanktionen zu vermeiden, sponsert die sunnitische Opposition gegen Syriens Bashar al-Assad, brach einen lautstarken, überflüssigen Streit mit Israel vom Zaun, drohte Zypern wegen dessen Gasfunden im Meer und intervenierte sogar im Gerichtsverfahren gegen einen islamistischen Führer in Bangladesch.
Nachdem sie Mitte 2011 den "tiefen Staat", insbesondere das Offizierskorps, ausmanövrierte, hat die AKP eine zunehmend autoritäre Gestalt angenommen, was so weit geht, dass viele Türken eine Diktatur mehr fürchten als eine Islamisierung. Sie sehen, wie ein Erdoğan, berauscht von der Macht", Kontrahenten aufgrund von Verschwörungstheorien und Abhöraktionen inhaftiert, Schauprozesse inszeniert, eine Kostüm-Seifenoper im Fernsehen verbietet, danach strebt dem Land seinen persönlichen Geschmack aufzuzwingen, Antisemitismus fördert, politische Kritik unterdrückt, gewaltsame Maßnahmen gegen gegen ihn protestierende Studenten rechtfertigt, Mediengesellschaften manipuliert, die Justiz unter Druck setzt und das Konzept der Gewaltenteilung zugrunde richtet. Der Kolumnist Burak Bekdil verspottete ihn als "den gewählten Sozialingenieur der Türkei". Andere betrachten ihn finsterer als die türkische Antwort auf Wladimir Putin, einen arroganten Halbdemokraten, der Jahrzehnte an der Macht bleibt.
Da er Mitte 2011 von der Aufsicht durch das Militär befreit ist, sehe ich Erdoğan als jemanden, der möglicherweise genügend diktatorische Macht für sich (oder einen Nachfolger) gewinnt, dass er seinen Traum der verwirklicht und die Scharia komplett implementiert.
Ergänzung vom 26. Dezember 2012: Einige Zusatzfakten über Turkish Airlines (Abkürzung: THY):
Sie bietet koschere, hinduistische und jinistische Mahlzeiten an.
Sie ist stolz darauf, gemäß der Bewertung von Skytrax (einer britischen Unternehmensberatung) "Europas beste Airline" zu sein.
Sie prahlt mit einem Netzwerk, das mehr Länder bedient als jede andere Airline (91 Länder gegenüber Air France mit 88).
Ihre wichtigste Business Class Lounge, die am Istanbuler Atatürk-Flughafen, ist (nach Meinung dieses Reisenden), die bei weitem herausstehende der Welt, was ihr innovatives Design, ihre Spieleckenbereiche für Kinder, ihre Bücherei, Billardtisch, Fernsehkonsole, Kino, Pianobar, Moschee, Duschen, Schlafräume und die Auswahl und Qualität des Essens angeht. Sie fasst 2.000 Gäste.
Die türkische Regierung hält 49 Prozent der Aktien von THY und die Airline wird, wie Orçun Selçuk in Today´s Zaman schreibt, "von der Regierung offen als Mittel genutzt die Expansion seiner Außenpolitik zu stärken". Zusätzlich, schreibt er, dient sie "als Mittel der Soft Power, die auf die wachsende Attraktivität der Türkei bei der Öffentlichkeit in anderen Ländern zielt".
haolam

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