Friday, January 03, 2014

Junge Radikalisierung

Die Zahl deutscher Dschihadisten („heiliger Krieger“), die sich in afghanischen, pakistanischen und jemenitischen Lagern ausbilden lassen, um sich am Kampf in Syrien und anderen Konfliktregionen zu beteiligen, nimmt zu. 2007 warnte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble vor dem wachsenden Phänomen eines „homegrown terrorism“, eines „hausgemachten Terrorismus“. Was treibt junge Menschen – Migranten wie Konvertiten – in den radikalen Islam?

Nach der Studie des Bundesinnenministeriums „Muslime in Deutschland“ von 2007 weisen zehn bis zwölf Prozent der Muslime das Potenzial für eine politisch-religiös motivierte Radikalisierung auf. Wenden sich nominelle Muslime einer intensiveren Praxis oder einem ganz neuen Verständnis des Islam zu, so geschieht dies bei Migranten der zweiten oder dritten Generation meist auf der Suche nach der eigenen Identität, die für viele junge Muslime Europas nicht eindeutig geklärt scheint. Sind sie Deutsche? Türken? Deutsch-Türken? Ebenso gefährdet scheinen vereinsamte Zuwanderer – oft Studenten –, die mit der ungewohnten Vielfalt westlicher Freiheiten überfordert sind. Der Islam als Wurzel, Identifikationsmoment und Standortbestimmung ist aus ihrer Sicht häufigster Grund ihrer Zurückweisung durch die deutsche Gesellschaft und die – in ihren Augen – einseitig negative mediale Berichterstattung über den Islam . Wo auf diese Weise Identitätskonflikte mit Erfahrungen der tatsächlichen oder gefühlten Ablehnung und Diskriminierung durch das Umfeld einhergehen, wächst die Offenheit für alternative Angebote von Freundschaft und Akzeptanz am Rande der Gesellschaft.

Klare Regeln und einfache Feindbilder

Radikale Gruppen bieten klare Regeln und einfache Feindbilder, eine Elite-Identität, den Einsatz für eine vermeintlich gerechte Sache, einen Platz innerhalb der Gesellschaft im Diesseits, Bewunderung durch die muslimische Gemeinschaft, die Wiederherstellung der verloren geglaubten Ehre, die Gemeinschaft Gleichgesinnter und die Wiederherstellung der „natürlichen“ Ordnung, in der der „wahre“ Islam und die Ordnung des islamischen Rechts, der Scharia , siegen werden. Die radikalisierte Gruppierung wird zum “sichtbaren Jenseits“, zur besseren Welt der Gläubigen mit dem Ziel, die „reine“ islamische Gesellschaft nach dem Vorbild Muhammads zu erschaffen. Sie bietet dem Entwurzelten ein Zuhause, wahre Freundschaften und eine neue Familie. Darin liegt ihre Hauptanziehungskraft – nicht nur für Migranten, sondern zunehmend auch für junge europäische Konvertiten, die sich in individualistischen und relativistischen Gesellschaften nach einem Gruppengefühl, klaren Vorgaben und Strukturen sehnen.

Der typische Dschihadist

Zunächst liegt die Vermutung nahe, dass derjenige, der sich einer dschihadistischen Gruppierung anschließt, dies tut, weil er den Koran ‚wörtlich’ auslegt oder besonders ‚strenggläubig’ ist. Alle für Europa vorliegenden Studien über Radikalisierungsprozesse in islamischen Milieus widersprechen jedoch dieser Annahme. Der typische Anhänger einer dschihadistischen Gruppierung hat gerade keine besonders religiöse Vergangenheit und zunächst auch kein gesteigertes Interesse an Theologie. Die Beschäftigung mit dem Koran und dem „reinen Islam“ in einer engen Gemeinschaft gibt ihm jedoch zunehmend einen neuen Lebensmittelpunkt und Sinn im Leben.
Dschihadisten sind keine Psychopathen, die eine Gehirnwäsche durchlaufen haben und nun willenlos Befehlen gehorchen. Sie leiden in der Regel an keinerlei erkennbaren mentalen Irritationen. Zumindest die Anführer der Bewegungen sind in aller Regel weder verarmt noch ungebildet, sondern entstammen der aufstrebenden Mittelschicht mit guten Aussichten auf dauerhaften beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg.

Orte der Radikalisierung

Zwar gibt es Moscheen, die als Brutstätten radikaler Lehren in Deutschland und darüber hinaus bekannt sind. Die bevorzugten und häufigsten Orte der Radikalisierung sind jedoch meist informelle Orte der Zusammenkunft wie Buchläden, Telefonshops, Schulen, Universitäten und heute vermehrt auch Gefängnisse.
Das Internet spielt mit seinen weltweit zugänglichen Aufrufen zur Teilnahme am Dschihad, Anleitungen zum Bombenbau und glorifizierenden Märtyrerbekenntnissen eine wichtige Rolle bei den sich immer schneller vollziehenden Radikalisierungen. In den meisten Fällen dschihadistischer Anschläge sind jedoch auch Kontakte zu einer Gruppe und/oder einer spirituellen Führer- beziehungsweise. operativen Leiterfigur nachweisbar. Das Internet schafft über Chaträume und Diskussionsforen die notwendige Kommunikationsplattform, die Dschihadisten weltweit miteinander verbindet.

Vier Phasen der Radikalisierung

Die Studie „Radicalization in the West: The Homegrown-Threat“ der New Yorker Polizei von 2007 spricht von vier Phasen der Radikalisierung. Zuerst gerät der Betroffene in einen Teufelskreis von Ablehnung und Rückzug. Dann nimmt die Identifikation mit der radikalen Lehre der Gruppe zu. Der Betroffene gibt bisherige Lebensgewohnheiten und Beziehungen – manchmal sogar zur eigenen Familie – auf und versucht, sein Leben, Verhaltensweisen und Kleidungsstil immer stärker in Übereinstimmung mit dem Leben der frühislamischen Gesellschaft zu bringen. In der dritten Phase werden radikale Antworten vollständig akzeptiert. Die Anwendung von Gewalt erscheint dem Betreffenden als legitimes Mittel einer vermeintlichen Selbstverteidigung gegen den Westen oder die „Ungläubigen“. Der Dschihad wird zur individuellen Pflicht, zur notwendigen Tat für das baldige Anbrechen einer Heilszeit und die Aufrichtung einer wahrhaft gerechten Gesellschaft unter der Scharia .
Mit Anbruch der vierten Phase haben die Mitglieder ihre Beteiligung am Dschihad akzeptiert. Er gilt ihnen nicht mehr als Angriffskrieg, sondern nur noch als Verteidigung, auch wenn dabei Unbeteiligte umkommen. Die Welt „dort draußen“ mit ihren teuflischen Kräften wird abgelehnt. Es entsteht das Gefühl, dass die eigene Gruppe unter akuter Bedrohung lebt. Eine utopische Weltordnung erscheint in greifbarer Nähe. Jetzt ist der „Punkt ohne Rückkehr“ erreicht. Aufgrund der Gruppendynamik gibt es praktisch kein Zurück mehr. Ob es zur Ausführung eines Anschlags kommt, hängt ganz wesentlich von der Entschlossenheit des geistigen Mentors der Gruppe ab.
Der Prozess der Radikalisierung kann unbemerkt und leise vor sich gehen. Eindeutige Anzeichen gibt es nicht. Rückzug aus der Gesellschaft, ein islamischer Kleidungsstil, die intensive Nachahmung des Lebens von Muhammad oder das Abbrechen der Kontakte zur Familie können Warnzeichen sein, sind aber einzeln keine eindeutigen Indikatoren für einen Eintritt in eine dschihadistische Gruppierung.

Fazit

Der Dschihadismus ist eine echte Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit Europas. Der Kampf gegen diese Bedrohung wird nicht allein zu gewinnen sein durch die Verfolgung von Terroristen, bessere Sicherheitssysteme und eine stärkere Überwachung von Verdächtigen. Der Kampf gegen den Terror wird wohl nur durch ein Austrocknen des Nährbodens zu gewinnen sein, auf den derzeit die dschihadistische Lehre bei einem Teil der Migranten fällt. Gegenüber dem Westen hat sich unter einem Teil der Migranten das Gefühl einer dauerhaften Fremdheit, in islamisch geprägten Kulturen sogar große Wut, angestaut. Der „Kreuzzug“ gegen die „Achse des Bösen“ bei gleichzeitig öffentlich aufgedeckten Doppelstandards für die Supermacht der Besatzer des Irak (Stichwort: Guantanamo, Abu Ghraib, Entziehung vor Schiedssprüchen durch den Internationalen Gerichtshof) wird als Feldzug zur Vernichtung des Islam gedeutet. Die Folge ist nicht nur ein Gefühl der Demütigung, sondern daraus resultierende Feindseligkeit sowie innere Emigration in den europäischen Aufnahmegesellschaften. Die Frage, ob wir die Entwurzelten in unseren Gesellschaften ihrer Isolierung und Wut entziehen können, wird nach Meinung führender Experten mit darüber entscheiden, wie erfolgreich der Dschihadismus künftig in Europa sein wird.

Von Christine Schirrmacher / INN

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