Saturday, July 05, 2014

Frank A. Meyer: Wer sind wir denn!

Der Europäische Gerichtshof hält das Burkaverbot in Frankreich für rechtens. Es entspreche der Selbstachtung der französischen Gesellschaft, nicht hinnehmen zu müssen, dass im öffentlichen Zusammen­leben demonstrative Barrieren errichtet würden – durch die Verhüllung der Frau.
Der Europäische Gerichtshof vermied es, in der religiösen Burkapflicht eine Diskriminierung der Frau zu erkennen.
Den dümmsten Satz dazu lesen wir im Zürcher «Tages-Anzeiger». Er stammt aus der Feder einer Journalistin: «Schliesslich haben die Frauen ein religiöses Selbstbestimmungsrecht.»
Selbstbestimmung? Kann eine Frau, die sich aus der Verschleierung befreien möchte, ihr schwarzes Gefängnis einfach ausziehen und gegen eine weisse Bluse und einen knielangen Rock tauschen, zum Beispiel in Saudi-Arabien?
Das soll die Frau nur mal wagen – der «Tages-Anzeiger» kann dann darüber schreiben, was mit ihr geschieht: Einsperrung und Auspeitschung sind ihr gewiss.
Selbstbestimmung hiesse: Über das Tragen der Burka bestimmt die Frau, niemand sonst, kein Gatte und kein religiöses Gebot.
Religiöse Selbstbestimmung ist ein Begriff der säkularen westlichen Gesellschaft. Der Kulturraum des Koran kennt ihn nicht, schon gar nicht für Frauen. Die gelten dort als Geschlecht von minderem Wert.
Je nach islamischer Sitte haben die Frauen zu tragen: Burka, den Mantel, der den ganzen Körper bedeckt und die Augen hinter einem Stoffgitter verbirgt (Afghanistan); Nikab, das Gewand, das nur einen Augenschlitz frei lässt (Arabische Halbinsel); Tschador, der Schleier, der Kopf und Körper bedeckt, aber das Gesicht frei lässt (gesamte islamische Welt, vor allem Iran und Arabische Halbinsel); Hidschab, das Kopftuch, das Haare, Ohren, Hals und Décol­leté verbirgt (gesamte islamische Welt sowie Migrationsgesellschaften in Europa).
Verzichten Hunderte Millionen Frauen aus freien Stücken – religiös selbstbestimmt – auf klare Sicht, auf freie Bewegung, auf Licht und Sonnenschein?
Es ist leider gang und gäbe, diesen Unsinn zu verbreiten: vorab bei Linken und Grünen, aber auch bei Linksliberalen und sogar Feministinnen. Die systematische Unterdrückung der Frau durch religiöse Gebote und Gesetze bei Androhung grausamster Strafen wird uminterpretiert: zur Selbstbestimmung der Frau!
Dazu werden eifrig Musliminnen zitiert, sehr oft westliche Konvertitinnen, die bezeugen, dass sie sich der Kleider-Männerordnung freiwillig fügen, weil sie nun einmal tiefgläubig seien.
Wie sind solche Bekenntnisse zu werten? Als Entlarvung der Mechanismen religiöser Herrschaft: Unterdrückung wird zur Hingabe an Gottes Gesetz verklärt – und damit zur «freiwilligen» Selbstunterdrückung. Diese despotische Perversion ist freilich nicht beschränkt auf die Welt von Koran, Scharia und islamischen Überlieferungen. Die jüdisch-christliche Kultur kennt die religiös grundierte Unterdrückung, gerade Unterdrückung und Herabsetzung der Frau, ebenso gut. Sie herrschte, auch in der Schweiz, bis ins 20. Jahrhundert.
Gottgefällige Unterwerfung, geistiger und seelischer Kniefall vor religiösen Geboten und vor Geistlichen, die sie verkünden, prägen heute noch den Alltag des islamischen Imperiums. Frauen, die nur ein paar Haarsträhnen zu viel unter dem Kopftuch hervorlugen lassen, werden immer wieder Opfer der Religionspolizei.
Der Islam erhebt Anspruch auf die Macht über die Gesellschaft sowie die Macht über den einzelnen Gläubigen.
Deshalb auch ist die religiöse Diktatur totalitärer als die säkulare, die Nischen des Privaten zulässt, in denen sich freies Denken und freie Sitten entwickeln können. So zeigte es der Arabische Frühling vor zwei Jahren hoffnungsfroh: Eine moderne, weil säkulare iPhone-Generation fegte die Diktatoren in Tunesien und Ägypten weg, schliesslich auch in Libyen.
Doch heute wird uns tagtäglich vorgeführt, was religiöser Totalitarismus bedeutet, von Afghanistan über den Iran und den Irak, über Syrien und die Golfstaaten bis nach Afrika. Auch die asiatische Islamkultur ist auf dem Weg zurück in eine mittelalterliche  Glaubenswirklichkeit. Und sogar in der Türkei dreht Recep Tayyip Erdogan das Rad der Ge­schichte in Richtung Vergangenheit.
Religiöses Selbstbestimmungsrecht der islamischen Frau?
Wer so etwas schreibt, sollte sich das Kopftuch überstreifen, wie es muslimischen Mädchen nach der ersten Menstruation verordnet wird: Es behindert die Bewegung, es behindert die Sicht, es behindert das Hören – denn es soll behindern! Es soll verhindern, dass sich das Mädchen zur freien und selbstbestimmten Frau entwickelt.
Ein Tag unter dem Kopftuch müsste genügen, um mit  klarem Kopf über die textile Gefangenschaft der muslimischen Frau zu schreiben.
Und wer ein Burkaverbot unangebracht findet, weil diese Frauen ja freiwillig das Dunkel der Verschleierung gewählt hätten, der sollte sich doch selbst einmal in solche Gefangenschaft begeben: gehbehindert, sehbehindert, lebensbehindert.
Ein Tag unter der Burka müsste genügen, um einen klaren Blick auf die «religiöse Selbst­bestimmung» der Frau im Islam zu erhalten.
Ja, der Frau im Islam ist die körperliche Selbstbestimmung untersagt, denn sie gilt als triebbestimmtes Wesen, unfähig, ihre provozierende Wirkung auf die Männer zu zügeln; sie ist deshalb nur verhüllt erträglich; und sie ist der Disziplinierung durch den Mann unterworfen, dem ein Züchtigungsrecht zusteht, wenn sie ihm nicht gehorcht; er darf die Frau auch schlagen im Fall von sexuellem Ungehorsam, einer besonders schlimmen Form der Widerspenstigkeit.
Das aber gilt nicht nur in den islamischen Herrschaftsgebieten. Es gilt für Hunderttausende Mädchen und Frauen, die in unserer Kultur von ihren muslimischen Männern in familiärer Unfreiheit gehalten werden – mitten in Rechtsstaaten, welche Gleichberechtigung der Frau in Grundgesetzen und Verfassungen festschreiben.
Burkas auf der Zürcher Bahnhofstrasse? Am Zytgloggeturm in Bern? Auf der Luzerner Kapellbrücke? In der Genfer Rue du Rhône?
Wo sind wir denn? Wer sind wir denn!
 blick.ch

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