Monday, November 19, 2018

Bionade gegen Bockwurst


Wagenknecht hat in Leipzig die zentrale Frage linken Selbstverständnisses aufgeworfen, als sie konstatierte: „Worüber wir diskutieren, ist, ob eine Welt ohne Grenzen unter kapitalistischen Bedingungen wirklich eine linke Forderung sein kann.“ (die-linke.de) Dieser scheinbar banale Satz wirft tatsächlich die Systemfrage auf und ist zugleich der Kritik der politischen Ökonomie verpflichtet: Es haben sich nämlich nicht die Nation als Rechtsform und das Kapital als gesellschaftliches Produktionsverhältnis vollends voneinander entkoppelt, sondern bestimmte bürgerliche Vorstellungen von staatlicher Wohlfahrt, staatlicher Daseinsfürsorge und damit staatlicher Souveränität ihre Wirkungsmacht eingebüßt, die das Ende jener national verfassten Daseinsform des Subjekts bedeuten könnten, die mit dem Begriff des Citoyen als des selbstbewussten Staatsbürgers verbunden ist, der wenigstens dem Ideal nach einen Common Sense anstrebt. Eine Welt ohne Grenzen zu fordern bedeutet zugleich, das Kapital in ungestörter Kollaboration mit Autokraten aller Art dort walten zu lassen, wo nur Rudimente staatlicher Souveränität existieren und aus Verwertungsgründen kein Grund für Nation-Building besteht. Man mag es Globalisierung, Deregulierung, Postfordismus oder Neoliberalismus nennen, gemeint ist immer nur, der bislang unbekannten Entnationalisierung der Produktions- und Wertschöpfungsketten, dem Rückbau bzw. der Privatisierung des (einstmals) öffentlichen Sektors, der Prekarisierung und Flexibilisierung der Lebensverhältnisse einen möglichst harmlosen Namen zu geben. Nichts anderes gilt für die Romantisierung der immer gnadenloseren Standort- und Lohnarbeitskonkurrenz und des damit einhergehenden Narzissmus als Individuationsersatz für weltoffene Mitläufer. Es geht also um eine Entwicklung, die sich am besten mit dem Begriff postmoderner Kapitalismus bezeichnen lässt und die sich verheerend auf die Triebstruktur und damit die Resistenzkraft des Individuums auswirkt. [...]Zum regelrechten Dilemma hat sich für die Kritiker des Pseudo-Kosmopolitismus das Paradox ausgewachsen, dass sich gegen die antinationale Barbarei, die sich nur folgerichtig im Wahn vom Weltsouverän (Gerhard Scheit) Ausdruck verleiht, ausgerechnet die Stärkung des längst anachronistischen Nationalstaates als das einzige Mittel erweist, um zumindest auszubremsen und einzuhegen, was sich sonst noch ungehemmter weltweit durchsetzen würde. Sahra Wagenknecht betonte in ihrer Rede auf dem Leipziger Die Linke-Parteitag direkt an ihre Fragestellung anknüpfend, ob die Forderung nach offenen Grenzen unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt erhoben werden könne: „Wir verteidigen das Recht armer Länder, ihre Märkte, ihre Wirtschaft mit Zöllen gegen unsere Agrarexporte zu verteidigen und zu schützen. Das heißt eben auch, dem freien Warenverkehr Grenzen zu setzen. Wir fordern Kapitalverkehrskontrollen um zu verhindern, dass Finanzspekulanten über Währungen, Zinsen und das Schicksal ganzer Volkswirtschaften entscheiden. Also auch dem freien Kapitalverkehr wollen wir natürlich Grenzen setzen“ (a.a.O.). Ihre altbacken linke Hervorhebung besonderer Akteure, die sie als Finanzspekulanten anprangert, als „verkürzte“ Kapitalismuskritik zu kritisieren, mag tun, wer von der etwas längeren Kapitalismuskritik etwas versteht und bereit ist, nicht wegen Böses verheißender Signalwörter die Reflexion ihrer Inhalte einfach zu unterlassen. Denn mit der Funktionsbestimmung des Nationalstaates im Verhältnis zum Kapital gerade auf die ganz oder weitgehend abgehängten Länder bezogen hat sie eine durchaus anti-deutsche Kritik des sprichwörtlich grenzenlosen deutschen Wirtschaftens auf der Basis eines weltweit einmaligen Handelsbilanzüberschusses geleistet. Aus Wagenknecht spricht in diesem Zitat nicht in erster Linie die romantische Antikapitalistin, sondern die Kritikerin der politischen Ökonomie, der es in der Auseinandersetzung mit ihren innerparteilichen Gegnern um eine Ent-Romantisierung der Kapitalismuskritik geht. Die DDR-Nostalgikerin Wagenknecht würde vermutlich der Forderung nach der Qualifizierung von Angehörigen abgehängter Länder in deutschen Betrieben und Hochschulen unbedingt zustimmen, schließlich bedarf es zum Aufbau einer konkurrenzfähigen, nachholenden Nationalökonomie auch der Spezialisten, die den neuen Weg erst einleiten können. Insofern bezieht sich ihre Feststellung: „Wir streiten über die Frage, ob es für Arbeitsmigration Grenzen geben sollte und wenn ja, wo sie liegen“ (ebenda) nicht nur auf die Interessen deutscher Arbeitnehmer in ihrem Kampf um höhere Löhne, sondern zum Beispiel auch auf die gezielte Abwerbung von zum Beispiel bulgarischen Krankenschwestern, die das dortige Gesundheitssystem bedroht. Darauf hat der Flügel um Katja Kipping meist nur die Invektive des „Nützlichkeitsrassismus“ parat. Diesen Begriff haben die Parteierneuerer vor Jahren mit Begeisterung nicht trotz, sondern gerade wegen seiner postmodernen Beliebigkeit von einem populären Bielefelder Antirassisten der ersten Stunde übernommen: „Heitmeyer zufolge hat der Ausgrenzungsdrang eine ,besondere Form der Menschenfeindlichkeit‘ angenommen. Ein neuer Rassismus entsteht – der Nützlichkeitsrassismus“, schrieb Kipping 2008, um dann den Antirassismus mit zentralen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie zu verquirlen: „Wer dem Nützlichkeitsrassismus das Wort redet, schafft Bürgerinnen und Bürger erster und zweiter Klasse: Da die Eliten und dort eine Klasse derjenigen, die nur ihre Arbeitskraft als Ware haben und die sich nicht mehr trauen den Mund aufzumachen, weil Hartz IV droht.“ Diese besondere Form der Rassifizierung der Verhältnisse, die den Antirassismus unterschiedslos allen vorschreibt, die qua gesellschaftlicher Stellung zu den Produktionsmitteln in vor-postmodernen Zeiten noch als die soziale Klasse der Lohnarbeiter und damit als die absolute Mehrheit der Gesellschaft galten, wollte Kipping als ihren Beitrag zu einer „Crossover“ genannten Diskussion verstanden wissen. Gemeint war damit eine über SPD-, Die Linke- und Grüne-Parteigrenzen hinweg geführte Debatte, die, wie Kipping es ausdrückte, ein „ernsthaftes Nachdenken über eine Linksregierung“ auf Bundesebene sein sollte, zu deren Grundvoraussetzung von ihr „der Abschied vom Nützlichkeitsrassismus“ erklärt wurde. (3) Im Ergebnis dieses „Crossover“ kam es Anfang 2010 unter reger Beteiligung Kippings zur Gründung des Institutes Solidarische Moderne (ISM), deren Vorstandsmitglied sie seitdem ist. Auslöser für die Gründung des ISM war das Scheitern des Versuches, in Hessen unter Führung der Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti und Duldung durch Die Linke eine rot-grüne Landesregierung zu bilden. Federführende Initiatorin der Institutsgründung war dann auch Ypsilanti, die neben der Attac-Geschäftsführerin Stephanie Handtmann, der thüringischen Landtagsabgeordneten der Grünen Astrid Rothe-Beinlich, dem Philosophen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thomas Seibert und dem stellvertretenden Die Linke-Parteivorsitzenden Axel Troost Vorstandssprecherin des Institutes ist. Konzipiert als parteiübergreifender Sammlungsverein hat sich das ISM „eine linke Politik auf der Höhe der Zeit“ auf die Fahnen geschrieben, die „ein substanzieller politischer Gegenentwurf zur Ideologie des Neoliberalismus“ sein soll: „Das Streiten für eine Moderne, die beides in sich vereint und weiterentwickelt: die Verteilungssensibilität der ,alten‘ und die individuellen Selbstbestimmungsansprüche der ,neuen Linken‘ […], die so dringend erforderliche Versöhnung zwischen den emanzipatorischen Ansätzen der Industrie- und der Postmoderne“. (4) So steht es im Gründungsaufruf des ISM, in dem ganz in Kippings Sinn weiter ausgeführt wird: „Zu den konzeptionellen Schwächen der industriellen Linken gehörte und gehört ebenso die Fokussierung auf Erwerbsarbeit und eine damit einhergehende Ignoranz gegenüber anderen, gesellschaftlich gleichermaßen bedeutenden Tätigkeiten wie Reproduktionsarbeit, politisches Engagement, Bildungsarbeit und Muße“. Zwar wird auch selbstkritisch eingeräumt, dass „über der Kritik an der industriellen Moderne und an deren politischen Trägern das Bewusstsein für die anhaltende Bedeutung der ,alten‘ sozialen Frage auch in der ,neuen‘ Welt des Dienstleistungs-, Wissens- und Informationskapitalismus […] zum Teil verloren ging“. Wie man die soziale Frage wiederfinden will, bleibt allerdings ein mosaikartiges Crossover-Geheimnis. Natürlich hat den ISM-Leuten die Gründung der von Wagenknecht maßgeblich initiierten Sammlungsbewegung Aufstehen gar nicht geschmeckt. In einer einschlägigen Erklärung lässt man es bereits in der Überschrift an Deutlichkeit nicht missen: „Institut Solidarische Moderne stellt sich gegen Wagenknecht und Lafontaine“. Darin heißt es, dass man den „Vorschlag für eine ,neue linke Sammlungsbewegung’“ deshalb mit „Erstaunen“ zur Kenntnis genommen habe, „weil das Institut Solidarische Moderne wie keine andere Institution für die Suche nach einem Crossover-Projekt einer Mosaiklinken steht“. Gleicht man den Gründungsaufruf von Aufstehen, der von den Verantwortlichen als „die grundsätzliche Gesinnung der Bewegung“ bezeichnet wird, mit den Schriften des ISM ab, so sind es zunächst nur die besonderen Akzentsetzungen, die die ISM-Genossen das Lafontaine-Wagenknecht-Projekt als gefährliches Konkurrenzunternehmen wahrnehmen lassen. Zwar ist man sich bei den Forderungen nach einer Stärkung des Sozialstaates, der sofortigen Rücknahme der Agenda 2010, einem umgehenden Stopp des Privatisierungswahnes und dem Kampf für ein Ende der flächendeckend prekären Lebensverhältnisse einig. Wenn das ISM auch krachend antiamerikanische Formulierungen, wie sie sich im Gründungsaufruf von Aufstehen finden, in der Regel vermeidet, so spricht doch alles dafür, dass auch das ISM die von Aufstehen als vornehmstes Ziel formulierte „neue Friedenspolitik“ teilen dürfte, die mit der Forderung nach mehr Unabhängigkeit von den USA und der Rückbesinnung „auf das gute Erbe der Friedens- und Entspannungspolitik Willy Brandts, Egon Bahrs und der Friedensbewegung in Ost und West“ traditionellen deutschen Antiimperialismus hochleben lässt, der weder links noch rechts, sondern einfach nur deutsch ist.
http://redaktion-bahamas.org/artikel/2018/80-bionade-oder-bockwurst/

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