Herkömmliche Anschlagsplanungen sind überflüssig: Der Sprecher des Islamischen Staates erteilt den Anhängern des Kalifats die Lizenz zum Töten in der ganzen Welt
Über 40 Minuten dauert die Rede (in Arabisch) des Sprechers des Islamischen Staates, Abū Muhammad al-‘Adnānī ash-Shāmī. Auch der transkibierte Redetext in Englisch, der vermutlich mit Kürzungen einhergeht, ist ausschweifend lang. Der Text ist eine Anrufung, voll typischer Elemente: Lobpreis des einzig wahren Gottes und seiner einzig wahren Anhänger, Grüßen, Segnen, Beschwören, Klagen, Verkündigen, Mahnen, Drohen, Verbannen und Verfluchen. Und es ist genau der Aufruf zu Gewalttaten an IS-Anhänger in aller Welt, den die internationale Öffentlichkeit seit Wochen erwartet. Neu ist das Spucken.
Namentlich angesprochen werden die muwahhidīn,
d.h. die, die an den einzigen Gott glauben, die rechtgläubigen
Monotheisten, "in Europa, Amerika, Australien und Kanada, in Marokko und
Algerien, in Khorasan, im Kaukasus und in Iran", schließlich "überall
auf der Erde". Wo immer sie sich aufhalten, jetzt sei es Zeit, den
Islamischen Staat zu verteidigen: "So rise O muwahhid. Rise and defend
your state from your place wherever you may be."
"Zerschmettere seinen Kopf mit einem Stein oder ersteche ihn mit einem Messer oder überfahr ihn mit einem Auto"
Nachdem al-‘Adnānī zuvor rhetorisch danach gefragt
hatte, was die Rechtgläubigen für ihre Brüder tun könnten, liefert er
wenige Sätze später konkrete Handlungsanweisungen:
Wenn dir weder ein IED-Sprengsatz zur
Verfügung steht noch eine Kugel, dann suche dir einen ungläubigen
Amerikaner oder Franzosen oder irgendeinen ihrer Verbündeten aus,
zerschmettere seinen Kopf mit einem Stein oder ersteche ihn mit einem
Messer oder überfahr ihn mit einem Auto, stoße ihn von einer Höhe
herunter, ersticke oder erdrossle ihn, vergifte ihn. Versage nicht! Sei
nicht verachtenswert. Dein Vorsatz soll sein: "Es könnte passieren, dass
ich nicht verschont werde, wenn der Anhänger des Kreuzes und der
Gesetze, die Menschen gemacht haben (taghūt), überlebt." Wenn du
das Genannte nicht schaffst, dann zünde sein Haus oder seine Wohnung an,
sein Auto oder sein Geschäft. Oder du zerstörst seine Ernte. Und wenn
du das nicht schaffst, dann spuck ihm ins Gesicht.
Offensichtlich hat der Aufruf zur Gewalttaten nichts
mehr mit dem "Modell Anschlagplanung" zu tun, mit dem die Geheimdienste
die große Öffentlichkeit seit 2001 vor al-Qaida warnten; es werden keine
Schläferzellen angesprochen, die auf Instruktionen warten oder die
bereits instruiert sind, jeder Anhänger soll zu jeder Zeit an jedem Ort
auf irgendeine Art zuschlagen, mit allem, was ihm auch immer zur
Verfügung steht, bis zu letzten Spucke. Die Konsequenzen dieses Aufrufs,
der alle, die nicht mit dem Islamischen Staat fanatisieren, zu weichen
Zielen macht und das Überwachungsraster überfordert, sind nicht
absehbar.
Der Kampf gegen Rom, die Juden, die Schiiten, die Alawiten, die Amerikaner, die Europäer...
Gleichgeblieben sind ein paar Grundelemente der von
al-Qaida gewohnten Rethorik, hauptsächlich der Versuch, den Krieg gegen
den Islamischen Staat als Krieg der Kreuzritter gegen Muslime
darzustellen, al-‘Adnānī beruft sich auf den Kampf gegen das neue Rom,
bzw. das neue Konstantinopel. Auch der Judenhass, die Judenverschwörung
wie auch der Hass auf die Schiiten und deren Verschwörung sind aus
früheren al-Qaida-Deklamationen bekannt. Als IS-spezifisches Element
kommt der Hass auf die Nusairier, die Alawiten (also auf die Konfession,
der der syrische Staatspräsident Baschar al-Assad angehört) dazu.
Auch Frankreich, dessen Präsident Hollande Ende
vergangener Woche Luftschläge gegen den IS anordnete, wird bei der
Lizenz zum Töten eigens erwähnt, was französischen Medien alarmiert:
Wenn du einen ungläubigen Amerikaner oder
Europäer töten kannst - besonders einen gehässigen und schmutzigen
Franzosen - oder einen Australier oder einen Kanadier oder irgendeinen
der Bürger eines Landes, das sich der Koalition gegen den IS
angesschlossen hat, dann verlass dich auf Allah, töte ihn auf irgendeine
Art. Dazu brauchst du kein Urteil von irgendjemand. Töte den
Ungläubigen, ob er Zivilist oder Soldat ist, es gilt die gleiche
Regelung. Beide sind Ungläubige.
Auffällig ist, dass der Aufruf aus einer Art Defensive
heraus geschrieben ist, auch wenn dies von den aggressiven
Brutalo-Tiraden gegen alle, die nicht im eigenen Lager sind - die
Aufzählungen der Feinde sind ermüdend lang und werden periodisch
wiederholt, auf dass man sie nicht vergisst - überblendet wird, so legt
al-‘Adnānī großen Wert darauf, den Islamischen Staat als Angegriffenen
darzustellen, als Opfer einer Medienkampagne.
Das dürfte angesichts der gegenwärtigen Hellhörigkeit
gegenüber Desinformationskampagnen bei einigen auf offene Ohren stoßen,
insbesondere da die Juden als Ursprung allen Übels und Nutznießer
sämtlicher "Kriegszüge gegen die Muslime" herausgestellt werden.
O Americans, and O Europeans, the Islamic
State did not initiate a war against you, as your governments and media
try to make you believe.
Futter für die psychologisch interessierten Deuter gibt
das allgegenwärtige Motiv der Demütigung in der Rede al-‘Adnānīs. Die
Feinde sollen "wie Schafe" abgeschlachtet und ihre Frauen entführt
werden, weil man selbst Opfer zahlloser Demütigungen wurde, so Adnānī.
Americans watched with happiness the killing and destruction of 100,000s of dead and imprisoned Muslims.
Der psychoanalytisch geschulte Gegenwartsdiagnostiker Slavoj Žižek nannte die IS-Fundamentalisten kürzlich eine Schande für den Fundamentalismus
(wobei er dazu anscheinend auf alte Texte aus seinem Fundus
zurückgriff, was nicht gerade für eine akute Diagnose spricht). Dabei
unterstellte er ihnen, dass sie sich im Geheimen unterlegen fühlen und
jede Äußerung ihrer Gegner sie in diesem Gefühl bestärke und sie noch
wütender machen würde. Spuckt gerade jemand?
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