Wie wichtig ist ein Sieg in Kobani für den Islamischen Staat (IS)?
Eminent wichtig, denn es wäre die direkte Antwort des IS auf die
Bombardierungen der Amerikaner, die am 8. August im Irak und am 23.
September in Syrien begonnen haben. Obama hatte angekündigt, den IS «zu
schwächen und zu zerstören». Ein neuer Sieg der Jihadisten würde deshalb
ihr Image in der Region sowie bei möglichen Unterstützern enorm
stärken.
Geht es vor allem um Symbolik?
Nein. Symbolisch ist der Sieg über eine Koalition von 40 Ländern und
trotz der im Fernsehen spektakulär dargestellten US-Luftangriffe
natürlich wichtig. Politisch aber wäre es gleichzeitig ein harter Schlag
gegen die syrischen Kurden, die bisher zu den wirksamsten Gegnern des
IS zählten. Strategisch schliesslich würden die Jihadisten neu drei
Grenzübergänge zur Türkei kontrollieren, einen wichtigen Abschnitt der
Strasse entlang der Grenze sowie ein grosses Gebiet zwischen Mosul und
den Vororten von Aleppo dazugewinnen.
Wie erklären Sie die enorme Widerstandskraft des IS?
Es ist die tödliche Mischung von religiösem Fanatismus und militärischer
Erfahrung. Dabei stammt die militärische Kompetenz nur zum Teil von den
Generälen und hohen Offizieren der früheren Armee von Saddam Hussein,
die sich dem IS angeschlossen haben. Oder von den in seinen Reihen
kämpfenden Tschetschenen, deren Einheiten übrigens in Kobani die
Angriffe leiten sollen. Entscheidend ist wohl vielmehr die Erfahrung,
die diese sunnitischen Milizen seit 2003 zunächst im Irak gegen die
US-Armee, später die irakische Armee oder jüngst in Syrien gegen die
Armee von Assad gewonnen haben. Wer all das überlebt hat, beherrscht
sein Metier wahrscheinlich nicht schlecht.
Wie wichtig ist die Unterstützung aus der Türkei?
Lange Zeit konnten die Jihadisten die Grenze frei überschreiten und die
Türkei als Rückzugsgebiet nutzen. Die Flugzeuge von Istanbul ins
Grenzgebiet waren voll mit bärtigen Männern. Das ist heute nicht mehr so
einfach. Seit einem Jahr machen die USA Druck auf Ankara, diesen
Verkehr zu unterdrücken. Inzwischen aber sind die Islamisten nicht mehr
so dringend darauf angewiesen. Sie kontrollieren ein Gebiet mit 5 bis 6
Millionen Menschen, das ist ein genug grosses Rekrutierungsreservoir.
Wie konnte eine Gefahr wie der IS so lange unentdeckt bleiben?
Nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Irak 2011 wandte sich auch die
internationale Aufmerksamkeit vom Land ab. Man dachte, das Geschäft sei
erledigt. Und übersah dabei, wie die Frustration gerade in der
sunnitischen Minderheit unter dem Regime von Premierminister Nouri
al-Maliki immer grösser wurde. Die krasse Diskriminierung der Sunniten
schuf ein ideales Rekrutierungsumfeld für die Islamisten. Doch der
entscheidende Funke sprang aus Syrien über: Die irakischen Sunniten
verfolgten mit, wie ihre Glaubensbrüder sich dort gegen das Assad-Regime
erhoben und dabei starke Unterstützung aus Saudiarabien und den
Golfstaaten erhielten. Das war der Moment, in dem sich der sunnitische
Aufstand auch im Irak radikalisierte und die Voraussetzungen für den
Aufschwung des IS schuf.
Wäre der IS gestoppt worden durch eine Intervention in Syrien?
Das ist eine naive Vorstellung: Nach den Erfahrungen in Libyen muss man
wohl annehmen, dass selbst ein militärischer Eingriff des Westens zum
Sturz Assads die Probleme nicht gelöst hätte. Zudem wäre das nicht so
leicht zu bewerkstelligen gewesen. Assad hatte und hat mit Russland und
dem Iran viel stärkere internationale Unterstützung, als sie Ghadhafi je
gehabt hat. Dass man aber nichts getan hat, um den Krieg in Syrien
durch einen international vermittelten Waffenstillstand zu stoppen, hat
sicher in die Hände des IS gespielt. Der IS ist unter anderem eine
religiöse Kriegsmaschine. Im Kampf kann er seine brutale Kraft erst
richtig entfalten.
Sie vergleichen den IS mit den
faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen in Italien und
Deutschland. Was heisst das für Nachbarländer wie Jordanien oder
Libanon?
Nichts Gutes: Ich denke, sie unterschätzen die Gefährlichkeit des IS
immer noch. Viele Länder in der Region haben die jihadistischen
Bewegungen in Syrien mit Geld und Waffen ab 2011 unterstützt. Das kam
auch dem IS zugute.
Stimmt der Faschismusvergleich?
Es gibt starke Parallelen: Beim IS handelt es sich um eine Bewegung, die
extrem sektiererisch ist, keine andere Wahrheiten zulässt, soziale
Unzufriedenheit aufnimmt und Widerstand oder Widerspruch mit brutaler
Gewalt unterdrückt. Dazu kommt ein radikaler Antischiitismus, der in
gewisser Weise mit dem Antisemitismus vergleichbar ist. Christen oder
Jesiden in der Region machen jedenfalls diesen Vergleich.
Was treibt den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten an?
Es ist ein uralter Konflikt, der immer wieder blutig ausgebrochen ist.
Doch was ihn in den letzten 40 Jahren angeheizt hat, ist der radikale
Wahabismus, wie er in Saudiarabien gelehrt und von wo er mit grosser
finanzieller und medialer Unterstützung in der gesamten muslimischen
Welt verbreitet wird. Der Wahabismus hat den moderaten sunnitischen
Islam verdrängt. Es ist eine zutiefst sektiererische Form des Islam,
feindlich gegenüber Schiiten, Sufis, Jesiden, aber auch allen
Nichtmuslimen, wie Christen oder Juden. Die Spannungen im Nahen Osten
haben dadurch eine stark religiöse Komponente erhalten.
Hat
der US-Einmarsch im Irak diese Spannungen verstärkt, indem neben dem
Iran nun ein zweites Land unter schiitische Herrschaft geriet?
Ja, durch den Einmarsch im Irak sind die USA und ihre Partner in diese
Auseinandersetzung hineingezogen worden. Sie haben den Konflikt sogar
verschärft, weil aus Sicht der Sunniten die Schiiten sich ausländischer
Hilfe bedienten, um sie von der Macht zu vertreiben, und sich damit als
doppelte Verräter erwiesen.
Ist mit dem Erfolg des IS der «Krieg gegen den Terror» gescheitert?
Ja, das ist ganz offensichtlich. Die Anschläge vom 11. September waren
auf die Politik von Saudiarabien und Pakistan zurückzuführen. 15 der 19
Attentäter waren Saudis. Amerikanische Untersuchungen zeigten, dass
Geld aus saudischen Quellen die Anschläge finanziert hatte; und Bin
Laden selbst stammte aus der saudischen Elite. Unterschlupf hatte er in
Afghanistan bei den Taliban gefunden, die wiederum ein Ziehkind des
pakistanischen Geheimdienstes waren. Und so führte der Entschluss der
USA, sich in ihrem Krieg gegen den Terror nicht auf Pakistan zu
konzentrieren, nur dazu, dass sie die Taliban nie besiegen konnten. Und
Saudiarabien wurde nie dazu gezwungen, seine enorme finanzielle
Unterstützung für radikalislamische Bewegungen und die entsprechende
Propaganda im Internet aufzugeben. Auf diese Weise konnte der Krieg
gegen den Terror nur scheitern.
Experten sprechen nun von einem
neuen 30-jährigen Krieg zwischen Schiiten und Sunniten in der Region.
Ist das nicht übertrieben?
Der Vergleich ist in einer wichtigen Hinsicht berechtigt: Im Krieg in
Syrien, der nun auch auf den Irak übergegriffen hat, werden wie im
30-jährigen Krieg in Deutschland vor 400 Jahren vier oder fünf Kriege in
einem ausgefochten. Es geht einerseits um einen Volksaufstand in
Syrien, darin steckt gleichzeitig eine Rebellion der Muslimbrüder gegen
das schiitisch-alawitische Regime von Assad, der wiederum Teil ist eines
regionalen Konflikts zwischen Schiiten und Sunniten, hinter dem der
Iran und Saudiarabien stecken. Schliesslich haben wir es überregional
mit einem neuen Kalten Krieg zu tun zwischen Russland, das Assad
unterstützt, und den USA. Das macht es so schwierig, diesen Konflikt zu
befrieden. Es gibt zu viele Akteure, mit zu vielen divergierenden
Interessen.
Ist es unter diesen Umständen denkbar, dass Syrien und der Irak als eigenständige Staaten überleben?
Das ist kaum vorstellbar, nach all dem Blut, das geflossen ist. Was
diese Woche geschehen ist, ist bezeichnend: Alle sind auf Kobani
fixiert, gleichzeitig hat der IS aber fast alle Städte in der
südirakischen Provinz Anbar erobert. Die Offensive startete am 2.
Oktober, und der IS steht jetzt vor den Toren Ostbagdads. Und auch hier
konnte die irakische Armee – trotz US-Luftunterstützung – den
Islamischen Staat nicht stoppen. Es wird sehr schwierig werden, unter
diesen Bedingungen den irakischen Staat wieder aufzubauen. Dasselbe gilt
für Syrien. Assad wird kaum je das ganze Land wieder unter seine
Kontrolle bringen.
Und der Islamische Staat? Wird er sich als Staat etablieren?
Das ist bereits der Fall. In den von IS kontrollierten Gebieten wurde
eine Verwaltung aufgebaut. Ob dieses Konstrukt halten wird, ist eine
andere Frage. Die Jihadisten des IS sind vielleicht am besten mit den
Roten Khmer in Kambodscha zu vergleichen: militärisch sehr erfolgreich,
aber auch extrem ideologisch und repressiv im Alltag.
Sind die Jihadisten fähig, einen Staat über längere Zeit zu führen?
Nach dem Fall von Mosul im Juni hofften viele im Westen, die
sunnitischen Stämme würden die brutale IS-Herrschaft bald abschütteln,
wenn man die Regierung in Bagdad austauschen und die Sunniten stärker in
die Politik einbinden würde. Doch das war eine Illusion. Zum einen wird
man eine solch aggressive und auch paranoide Gruppierung nicht so
einfach los. Zum anderen ist die Angst vor den schiitischen Milizen oder
der Armee im Irak bei den Sunniten im Moment grösser als jene vor dem
IS. Langfristig aber hat auch der IS keine magischen Kräfte, er wird
nicht ewig napoleonische Siege erringen. Je mehr er sich festsetzt, die
Scharia anwendet, mit brutalen Strafaktionen vorgeht und Frauen
herabwürdigt, desto mehr werden die Wut und der Widerstand wachsen. Aber
das kann lange dauern.
Was kann der Westen tun?
Vordringlich ist eine Befriedung Syriens: Hier ist der eigentliche
Nährboden für den IS mit einem sunnitischen Bevölkerungsanteil von fast
60 Prozent, im Irak sind es nur 20 Prozent. Wenn es gelänge, einen
Waffenstillstand zwischen Assad und der Nicht-IS-Opposition
herbeizuführen, um die Gewalt zu stoppen, liesse sich der IS bremsen.
Doch dazu müssten sich Bashar al-Assad, der Iran, Russland mit den USA,
Saudiarabien, der Türkei und allen anderen wichtigen Akteuren in der
Region einig werden, dass mit erster Priorität nun der IS gestoppt
werden muss.
Bisher ist das nicht der Fall.
Nein, deshalb kann auch Obamas Strategie nicht aufgehen. Wichtige
Akteure wie die Türkei oder Saudiarabien wollen den IS nicht wirklich
bekämpfen. Das sieht man in Kobani deutlich. Für diese beiden
Regionalmächte hat der Sturz Assads erste Priorität. Jene aber, die am
Boden gegen die Jihadisten kämpfen, die syrische Armee, die syrischen
Kurden, Hizbollah, die irakisch-schiitischen Milizen, werden von den USA
auf Distanz gehalten, weil man mit ihnen nicht kooperieren will. So
aber können die Luftschläge keine grosse Wirkung zeitigen. Ohne
Bodenunterstützung machen sie wenig Sinn.
Wie gefährlich ist der IS für den Westen?
Sehr gefährlich, aber weniger wegen der einzelnen europäischen Kämpfer,
die aus der Region in ihre Heimatländer zurückkehren. Was die
Organisation so gefährlich macht, ist, dass der IS sehr gut organisiert
ist und als Institution funktioniert. Die in Videos verbreiteten
Köpfungen von westlichen Geiseln wurden von oben angeordnet. Das sind
keine individuellen Entscheidungen von durchgedrehten Jihadisten. Sollte
der IS im Westen Anschläge planen, werden das gezielte, sehr gut
vorbereitete und organisierte Attacken sein. Diese Terrororganisation
ist sehr viel disziplinierter, grösser und gefährlicher als selbst das
Terrornetzwerk al-Qaida von Osama Bin Laden.
derbund.ch
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