«Der Kaiser ist nackt»,
konstatierte Gilles Kepel unlängst in der Tageszeitung «Libération». Der
Pariser Islamexperte geisselte die Unfähigkeit von Frankreichs
Geisteswissenschaftern, das Phänomen des einheimischen Jihadismus zu
durchdringen. Schuld daran sei zum einen «eine gedankenlose Politik der
Zerstörung», was Studienprogramme zur arabischen und muslimischen Welt
angehe, sprich: der fortschreitende Abbau von Forschungs- und
Lehrstellen für Spezialisten an den Universitäten und Instituten der in
diesem Feld einst führenden Grande Nation. Zum andern jedoch auch die
«vernebelnde» Wirkung der Schlagworte «Radikalisierung» und
«Islamophobie».
Zumal der Slogan «Islamisierung der Radikalität», den der Islamexperte Olivier Roy popularisiert hat,
zeuge von intellektueller Unredlichkeit. «Die These hinter der
griffigen Formel», so verdeutlicht Kepel im Gespräch mit der NZZ seine
Kritik, «verwässert die Spezifik des einheimischen Jihadismus im
Gemeinplatz eines Generationenphänomens: der islamistische Terror als
Jugendrevolte, als Ausdruck des Nihilismus junger Menschen ohne Halt im
Leben, als zeitgenössisches Pendant zu den Missetaten der
Rote-Armee-Fraktion und der Brigate Rosse . . .» Das sei die Sichtweise
einst linksorientierter Intellektueller, die wähnten, heute wiederhole
sich, was sie in ihrer Jugend miterlebt hätten. Die Formulierung
«Islamisierung der Radikalität» erlaube es ihnen, ihre Machtposition im
akademischen Feld zu behaupten und vergessen zu machen, dass sie in
jüngerer Zeit nicht viel zum Thema geforscht, weder Arabisch gelernt
noch Gefängnisse oder Problem-Banlieues unter die Lupe genommen hätten.
Natürlich
liessen sich Bezugspunkte zum Linksterrorismus von einst finden. Aber
was dem Jihadismus ureigen sei – seine engen Bande zum Salafismus, sein
umfangreicher Textkorpus, der eine einschlägige «Ideengeschichte» zu
entwerfen gestatte –, werde so ausgeblendet. «Dabei gilt es gerade
aufzuzeigen, dass den islamistischen Terrorismus eine Vision beflügelt,
die auf einen Bruch mit den europäischen Werten abzielt, und dass er
Ausdruck eines innerislamischen Kampfes um die Deutungshoheit gegenüber
dem ‹wahren Glauben› ist.»
Ein
Hinderungsgrund für ein besseres Verständnis des einheimischen
Jihadismus ist laut Kepel auch der Vorwurf der «Islamophobie». Angriffe
gegen Muslime, ihre Person oder ihre Güter seien fraglos rechtlich zu
ahnden – wie gleichgeartete Attacken gegen Juden, Frauen, «Weisse»,
Homosexuelle usw. «Aber ‹Islamophobie› ist ein durch Salafisten
geprägtes Schlagwort mit politischer Zielrichtung. Es sucht jegliche
Kritik an ihrem eigenen Diskurs und an ihrem Streben nach Hegemonie
mundtot zu machen. Irregeleitete Antirassisten leisten ihnen dabei
Vorschub.»
Als frappantes Beispiel für diesen Vorgang zitiert Kepel den «Bannfluch» von 19 Akademikern
gegen den algerischen Publizisten Kamel Daoud, der sich kritisch zu den
Silvester-Übergriffen in Köln geäussert hatte. Kepel solidarisiert sich
dezidiert mit Daoud – und verurteilt seine Kritiker scharf: «Eine
kleine, ‹links-islamische› Sekte, deren Mitglieder unbedeutende Bücher
publizieren, einander die Steigbügel halten, allerlei Kommissionen
kolonisieren und so die junge Forschergeneration rekrutieren unter
Ausschluss all derer, die nicht so denken wie sie . . .»
Gilles Kepel, Autor zahlreicher Bücher zum
Spannungsverhältnis zwischen Muslimen und der westlichen Welt, lehrt in Paris an
der Ecole normale supérieure und am Institut d'études politiques. Am 18. Mai
wird er als Gast des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung in Zürich
einen Vortrag zum Thema «Jihad in Europa» halten.
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