Wenn ein 15- bis 17-jähriger Junge seinem Leben durch einen Sprung
aus der fünften Etage eines Plattenbaus ein Ende setzen will und auch
tatsächlich in den Tod springt, dann kann man erschrocken innehalten,
andächtig schweigen, als gläubiger Mensch ein Gebet sprechen oder auch
leise nach den Gründen fragen. Doch der verzweifelte junge Mann war ein
somalischer Asylbewerber, der sich nach seinem tragischen Tod am
Freitagabend im thüringischen Schmölln auch nicht mehr gegen die
Instrumentalisierung seines Selbstmords wehren konnte. Also wurde er am
Wochenende zum Objekt billiger Anklagen. Es waren die Klagen gegen jene
Deutschen, die keine Zuwanderung wollen und deren Schmöllner Vertreter
den armen Jungen in seinen letzten Lebensminuten noch zum Todessprung
animiert und angefeuert haben sollen.
Woher diese Nachricht eigentlich genau stammte, war uninteressant,
denn es war Wochenende, ein geeigneter Zeitpunkt also, eine veritable
Empörungswelle anrollen zu lassen. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen
im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, wusste sofort: “Es ist
menschenverachtend, dazu aufzurufen.” Es sei unfassbar, wie
Verzweifelten und Schutzsuchenden in diesen Zeiten Hass und Verachtung
entgegenschlage.[1]
Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow zeigte sich
„fassungslos“. Zweifel daran, dass der Mob den jungen „Flüchtling“ beim
Selbstmord anfeuerte, äußerten sie zunächst nicht. Es passte wohl zu gut
ins eigene Weltbild, besser jedenfalls als die anderen Fakten, die
nicht so gut zur Empörung passen wollten.
Aber warum hätten die Empörten auch zweifeln sollen, wenn doch kein
Geringerer als der Schmöllner Bürgermeister Sven Schrade (SPD), der sich
ja schon von Amts wegen um den guten Ruf seiner Stadt sorgen muss, das
angebliche Treiben seiner Bürger als „verachtenswert, ja unmenschlich“
bewertet hatte, noch bevor sich die Ermittlungsbehörden überhaupt zu dem
Fall geäußert hatten. Lieber glaubte das Stadtoberhaupt seinen eigenen
Informanten: “Uns liegen auch Informationen vor, dass einige, ich nenne
sie mal Schaulustige, diesem Vorfall lange beigewohnt haben, und wohl
auch Rufe gefallen sein sollen wie ‘Spring doch’ “, sagte er am Samstag.[2]
Wer will einem Bürgermeister an dieser Stelle nun widersprechen, ohne
in den Geruch zu geraten, fremdenfeindlichen und menschenverachtenden
Pöbel zu verteidigen? Die unpassenden Fakten zu präsentieren, oblag
letztlich der Polizei: “Wir haben dort keine Person brüllen hören oder
ähnliches”, sagte ein Sprecher der Landespolizei am Sonntag. Polizei und
Feuerwehrleute vor Ort hätten während ihres mehrstündigen Einsatzes
keine Rufe gehört und es sei auch kein besonderer Auflauf an
Schaulustigen gewesen.[3]
Auch die Quelle des Bürgermeisters wurde von der Polizei gefragt und
plötzlich hieß es, sie wisse von jemandem, der sinngemäß gehört haben
wolle, dann soll er doch springen. Damit ist diese Nachricht eigentlich
nicht mehr als ein Gerücht, nur war der Vorgang nebst allfälliger
Empörung nun in der Welt. Insofern kann es auch der Polizeisprecher
nicht nur sagen, dass er schon wegen der vielen Konjunktive in der
Aussage der Kronzeugin des Bürgermeisters nicht wisse, was tatsächlich
gehört und gesagt wurde. Er setzte hinzu, dass er aber auch nicht
definitiv ausschließen könne, dass tatsächlich so etwas gefallen sei.
Eine recht fragwürdige Grundlage, um die Schmöllner Nachbarn der
Unterkunft des minderjährigen Asylbewerbers öffentlich der Mitschuld am
Selbstmord zu zeihen. Mit jeder neuen Information und Aktion wird es
zudem immer absurder. Während der Thüringer Ministerpräsident sich nun
vor seine Bürger stellt und die Öffentlichkeit vor Vorverurteilungen
warnt und der Betreiber der Wohneinrichtung behauptet, die Rufe, für die
es keine Zeugen zu geben scheint, hätte es gegeben, auch wenn er sie
selbst nicht gehört habe, gibt es eine neue Erklärung: Nachbarn haben
angegeben, sie wollten dem jungen Mann auf dem Fenstersims zu verstehen
geben, dass er in das unterdessen aufgespannte Sprungtuch der Feuerwehr
springen solle. Das allerdings hat er verfehlt.
Niemand weiß, ob der Junge, dessen Alter mal mit 15, mal mit 17
Jahren angegeben wird, überhaupt hätte verstehen können, was ihm
zugerufen wurde. Mohammed – so wird er in einem Zeitungsbericht genannt –
kam am 31. März dieses Jahres in Deutschland an. Aber um ihn geht es ja
auch längst nicht mehr. Die Debatte um die Vorgänge in Schmölln hat
sich von dem Umstand, dass hier ein junger Mann sein Leben ausgelöscht
hat, weitgehend gelöst. Wir können stattdessen einer zu jedem Anlass
gern wiederholten Aufführung der immergleichen Diskussion über
fremdenfeindliche Ostdeutsche beiwohnen, die noch etwas mehr
Überzeugungsarbeit brauchen. Was solche Aufführungen beim Publikum vor
Ort bewirken, wenn sich die konkreten Anschuldigungen nicht belegen
lassen, kann man sich eigentlich leicht ausmalen. Es ist ja nicht so,
dass es keine Anlässe für eine entsprechende Debatte gäbe, nur dann muss
man auch genau diese heranziehen. Stattdessen geben sich
Verantwortungsträger immer wieder überrascht davon, wie sich die
Bevölkerungsstimmung entwickelt. Da kann man in der Tat einigermaßen
fassungslos sein.
[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/suizid-eines-fluechtlings-ramelow-entsetzt-ueber-spring-aufrufe-14494248.html
[2] https://www.tag24.de/nachrichten/thueringen-schmoelln-passanten-sollen-fluechtling-zum-suizid-angestachelt-haben-polizei-ermittelt-175435
[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/suizid-eine-fluechtlings-polizei-bestreitet-hetzende-stimmung-in-schmoelln/14725442.html?mobile=false
http://sichtplatz.de/?p=6933
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