Wieder ist es so ein Morgen nach einem mörderischen Anschlag vom
Vorabend. Im Umgang mit Attentaten vor der Haustür entwickeln wir immer
mehr Routine. Dazu gehört auch, möglichst lange möglichst zurückhaltend
zu sein, wenn es um das mutmaßliche Tatmotiv geht. Zwar hat
wahrscheinlich jeder eine Vermutung im Hinterkopf, wenn er hört, dass es
ein Selbstmordanschlag war, durch den am Ende eines Pop-Konzerts in
Manchester mindestens 22 Personen ums Leben gekommen sind, doch niemand
mag bis zur endgültigen Klärung das I-Wort im Zusammenhang mit dieser
Mordtat erwähnen. Läge ein rechtsextremes Motiv nahe, wären Journalisten
und Politiker womöglich etwas großzügiger in ihren Spekulationen.
Aber halten wir uns an das, was wir wissen und das erzählt am Morgen danach der Polizeichef von Manchester, Chief constable Ian Hopkins.
Er bestätigt, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Verübt habe
ihn ein Einzeltäter, er sei tot. Der Täter habe anscheinend einen
selbstgebauten Sprengsatz mit sich getragen. Es werde jetzt untersucht,
ob er Teil einer größeren Gruppe gewesen sei. Es gebe 22 Tote, unter
ihnen befänden sich mehrere Kinder.
Soweit der Polizeichef. Das Konzert der amerikanischen Pop-Sängerin
Ariana Grande wurde vor allem von Kindern und Jugendlichen besucht, was
der oder die Planer wahrscheinlich wussten. Doch darf man an dieser
Stelle jetzt wirklich schon über das Tatmotiv reden, wenn man doch noch
gar nichts weiß? Ja, denn die Gedanken, die ohnehin die meisten bewegen,
wenn sie diese Nachrichten hören, kann man auch aussprechen. Solange
man Vermutungen und Gewissheiten genau voneinander trennt, ist das
legitim.
Es stimmt natürlich, nur weil fast alle größeren Anschläge der
letzten Jahre Islamisten zuzurechnen waren, darf man das ja nicht
automatisch bei jedem weiteren Attentat annehmen. Sonst sind Irrtümer
vorprogrammiert, wie beim Dortmunder Anschlag auf den
BVB-Mannschaftsbus, als auch der Autor dieser Zeilen trotz des für
Islamisten unüblichen Vorgehens dazu neigte, ein islamistisches Tatmotiv
für wahrscheinlich zu halten. Allerdings haben wir es in Manchester
wieder mit einem Selbstmordattentäter zu tun, also dem, salopp
formuliert, nahezu klassischen Muster.
Wir werden sehen, wie lange es dauert, bis wir etwas über das
Tatmotiv hören. Je länger es dauert, desto besser für all jene
politischen Verantwortungsträger, die ohnehin am liebsten mit starken
Worten den Terror beklagen, seine Opfer bedauern und die dahinter
stehende Ideologie beschweigen.
Immerhin weichen nicht alle Berichterstatter aus. Die FAZ
beispielsweise schreibt schon früh am Morgen danach, als noch vieles
unklar ist: „Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) feierten
den Vorfall in sozialen Netzwerken. Bislang hat sich jedoch niemand zu
der Tat bekannt.“
Und wie reagieren deutsche Politiker? „Entsetzliche Nachrichten aus
#Manchester! Unsere Gedanken sind jetzt bei unseren britischen
Freundinnen und Freunden. United we stand“, twittert Außenminister Sigmar Gabriel. Nicht viel einfallsreicher aber sprachlich eigentlich besser zum Außenressort passend twittert
Justizminister Heiko Maas: „Horrific news from #Manchester. Our
Thoughts are with the victims and their families. United we stand.“ An
dieser Stelle verbietet es der Respekt vor den Opfern vielleicht
wirklich, jetzt darüber zu sinnieren, wofür diese Herren denn eigentlich
vereint stehen. Das kann ein wenig warten, sie zeigen es uns ja leider
ohnehin jeden Tag aufs Neue.
http://sichtplatz.de/?p=8422
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