von Ramiro Fulano
Die erste Fragerunde bestand aus einem 20-minütigen Live-Interview
vor Publikum. Mr Islams Fragen betrafen hauptsächlich das Scheitern der
konservativen Regierung, die Netto-Immigration wie angekündigt auf den
Bereich „weniger Zehntausend“ zu reduzieren (sie liegt jetzt bei über
einer halben Million).
Mr Cameron wirkte defensiv und wie jemand, der zum ersten Mal in
seinem Leben die Erfahrung macht, dass Journalisten nicht alles glauben,
was er sagt.
Mr Islam wusste, dass er beim Thema Immigration alle Trümpfe in der
Hand hielt, denn die real existierende Wirklichkeit überführt den
Premierminister, wenn nicht der Lüge, so doch zumindest der
Schönfärberei, zuletzt in den Zahlen des ONS (Office for National
Statistics).
Ähnlich endete der Schlagabtausch beim Thema der „EU-Reformen“, die
Mr Cameron nach seinen Verhandlungen im Februar und März des Jahres aus
Brüssel mitgebracht hatte.
Auch hier erwies sich Mr Camerons Position rasch als unhaltbar, was
ihn dazu verführte, Mr Islam wiederholt ins Wort zu fallen, seine
Fragen zu ignorieren oder ins Lächerliche zu ziehen. Der Schlagabtausch
drohte, im Eklat zu enden.
Mr Islam revanchierte sich auf angemessene Art, indem er den
Premierminister zum Abschluss des 20-minütigen Interviews fragte, ob
denn nach einem Brexit nun zuerst die gesamte Wirtschaft Groß
Britanniens untergeht oder doch gleich der Dritte Weltkrieg ausbricht.
Das Publikum quittierte es mit schallendem Gelächter. Ich kenne
keinen Politiker, dem es geholfen hat, von „seinen“ Wählerinnen und
Wählern vor laufenden Fernsehkameras ausgelacht zu werden – live und in
Farbe.
Die nächsten 40 Minuten waren den Publikumsfragen gewidmet. Auch
hier überwogen kritische Fragen, die in der Regel sehr ruhig und gefasst
vorgetragen wurden, was in Groß Britannien nicht immer ein gutes
Zeichen sein muss.
Das Publikum ging auch dann noch geduldig mit Mr Cameron um, wenn
er abschweifte, eine Frage anders verstand, als sie gemeint war oder
sich geschickt aus der Affäre ziehen wollte, indem er am Thema
vorbeizureden versuchte.
Mit dem Sieg ging hier eine junge Literaturstudentin aus
Southampton von Platz, die sich gerade angesichts ihrer islamischen
Wurzeln gegen einen EU-Beitritt der Türkei aussprach – zum einen
aufgrund der Lage bei den Menschenrechten, zum anderen wegen des von ihr
befürchteten Zustroms islamistischer Extremisten aus dem ISIL-Umfeld.
Ihr Kommentar auf Mr Camerons Antwort: „Als Literaturstudentin
erkenne ich heiße Luft, wenn ich sie sehe.“ Der Applaus lag jenseits des
Messbereichs.
Danach sah es über weite Strecken so aus, als müsste Mr Cameron
sich eingestehen, dass seine breitbeinige Rhetorik floppte. Er
beantwortete die Fragen des Publikums nur oberflächlich und missbrauchte
sie als Sprungbrett in seine Argumentation: Wirtschaftswachstum gäbe es
für das UK nur mit der EU und ohne Wirtschaftswachstum gäbe es keine
Jobs, keine Wohnungen, keine Bildung und keine Gesundheitsvorsorge - so
there.
Das kann man so machen. Aber dadurch, dass man es zwei oder dreimal
hört, wird ein Argument auch nicht überzeugender. Und das war
tatsächlich alles, was Mr Cameron inhaltlich zum Thema beizutragen
hatte. Deshalb musste er es nicht zwei oder dreimal, sondern im Verlauf
einer Stunde zwanzig bis dreißig Mal wiederholen – ohne den Punkt zu
erreichen, an dem nach Hegel die Quantität in Qualität umschlägt.
Was die hohlen Phrasen des britischen Premierministers an Substanz
vermissen ließen, machte Mr Cameron durch leere Drohungen wett. Mr
Cameron musste sich vom Live-Publikum bei Sky News (wahrlich kein
Sender, dem man revolutionäre Umtriebe unterstellen könnte) widerholt
daran erinnern lassen, dass bange machen nicht gilt. Aber das fiel auf
taube Ohren.
Wie es Mr Cameron selbst widerholt formulierte: Er will doch
niemandem Angst machen - er will nur vor den Folgen warnen, die ein
Austritt Groß Britanniens aus der EU hat! Ach so.
Insofern schnurrte seine Argumentation auf ein Teil Blaues vom
Himmel und neun Teile Drohungen zusammen. Ich glaube nicht, dass das die
unentschlossenen Wählerinnen und Wähler überzeugt, oder die
Unterstützer von Mr Camerons EU-Politik beflügelt.
Heute Abend ist Mr Gove an der Reihe, zusammen mit Boris Johnson
und Nigel Farage einer der prominentesten Befürworter eines Austritts
Groß Britanniens aus der EU.
Mr Gove musste seinen Platz als Bildungsminister des konservativen
Kabinetts wegen seiner Brexit-Sympathien auf Betreiben David Camerons
räumen und gilt nicht nur als eloquent, sondern steht zudem auch in dem
Ruf, sich nur zu Themen zu äußern, von denen er etwas versteht.
Es dürfte Mr Gove selbst angesichts der heute Abend zu erwartenden
ebenso kritischen Fragen nicht schwerfallen, einen besseren Eindruck als
Mr Cameron zu hinterlassen. Selbst wenn es fraglich erscheint, wie
viele Fernsehzuschauer sich durch diese Art der Debatte tatsächlich
überzeugen lassen.
Wenn Groß Britannien aus der EU austritt, würde Frau Dr. Merkels
politische Karriere vielleicht nicht nur in einer Gummizelle am
Stadtrand von Berlin enden, sondern man hätte das zudem auch noch dem
„perfiden Albion“ zu verdanken. Ziemlich ironisch, wenn ausgerechnet
„Kohls Mädchen“ das „Mehr Europa“ ihres politischen Paten komplett vor
die Wand fährt.
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