Wednesday, April 05, 2006

Kritik ist ­unerwünscht

Urteil gegen Eren Keskin von thorsten mense

»Wenn ich Eren Keskin nicht bei der ersten Gelegenheit sexuell angreifen würde, wäre ich ein Feigling.« Sie habe »einigen Missbrauch verdient, wenn sie zurückkommt«, verkündete der türkische Journalist Fatih Altayli vor vier Jahren in einem Radiointerview. Zuvor hatte die Rechtsanwältin Keskin in Köln auf der Konferenz »Ist Frauenrecht ein Menschenrecht?« über sexuelle Gewalt in der Türkei gesprochen. Wegen »Beleidigung der staatlichen Sicherheitskräfte«, was in der Türkei noch immer als Straf­tat gilt, wurde sie vergangene Woche zu zehn Monaten Haft oder ersatzweise 4 500 Euro Geldstrafe verurteilt. Die Beleidigung besteht darin, dass sie auf der Konferenz als stellvertretende Vorsitzende der türkischen Menschenrechtsorganisation IDH über konkrete Fälle sexueller Folter berichtet hatte, der Frauen in staatlichem Gewahrsam in der Türkei ausgesetzt sind.
Da Soldaten bekanntlich nie Mörder und Polizisten immer Freunde und Helfer sind, können dem Gericht zufolge die Behauptungen nur Verleumdungen sein. Vielmehr wollten »bestimmte Kreise angesehene Ämter und Institutionen unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit angreifen«, wie es in der Urteilsbegründung heißt. Dabei würden sie »die Unterstützung der EU und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erhalten«. Das erinnert an die Diskussion um die Mohammed-Karikaturen. Anscheinend hört – frei nach Rosa Luxemburg – die Meinungsfreiheit dort auf, wo die Freiheit der politischen und religiösen Autoritäten anfängt. Die Freiheit also, ohne Konsequenzen Menschen zu verfolgen, zu unterdrücken und auch zu töten.
Seit Beginn ihrer Arbeit wurden rund 100 Verfahren gegen Eren Keskin eingeleitet, regelmäßig erhält sie Morddrohungen. Trotz der Gefahr, in der Haft selber sexueller Gewalt ausgesetzt zu sein, will die Anwältin die Geldstrafe nicht akzeptieren. »Kein Mensch soll die Freiheit seiner Meinung mit Geld erkaufen«, betonte sie nach der Urteilsverkündung.
Fatih Altayli, Kolumnist für die Zeitung Hürriyet, bekam 2002 für seine Äußerungen nur eine Verwarnung. Keskin wurde im gleichen Jahr mit einem einjährigen Berufsverbot belegt. Die Frage, ob Frauenrecht ein Menschenrecht sei, wurde vom Gericht in Istanbul durch das Urteil eindeutig beantwortet.

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