Saturday, January 02, 2010

Der Westen und die Mohammed-Karikaturen: Im Mauseloch der Angst

Von Henryk M. Broder
17 Jahre später, nachdem die dänische Tageszeitung "Jyllands-Posten" auf einer Seite ein Dutzend Mohammed-Karikaturen veröffentlicht hatte, kam es in der islamischen Welt zu ähnlichen Reaktionen: Millionen Muslime zwischen London und Jakarta, die keine der Karikaturen gesehen oder auch nur den Namen der Zeitung je gehört hatten, demonstrierten gegen die Beleidigung des Propheten und verlangten die angemessene Bestrafung der Übeltäter: mit dem Tode. Osama bin Laden ging so weit, die Auslieferung der Zeichner zu verlangen, um sie von einem islamischen Gericht aburteilen zu lassen.
Doch anders als im Falle von Rushdie solidarisierte sich diesmal kaum jemand mit den bedrohten dänischen Karikaturisten. Im Gegenteil. Günter Grass, der die ARTIKEL-19-Aktion angestoßen hatte, äußerte sein Verständnis für die verletzten Gefühle der Muslime und die daraus resultierenden gewalttätigen Reaktionen; diese seien, so Grass, eine "fundamentalistische Antwort auf eine fundamentalistische Tat", womit er eine Äquidistanz zwischen den zwölf Karikaturen und den Mordaufrufen auf die Karikaturisten herstellte. Bei der Gelegenheit wurde Grass auch grundsätzlich: "Wir haben das Recht verloren, unter dem Dach auf freie Meinungsäußerung Schutz zu suchen."
Der damalige britische Innenminister Jack Straw nannte die Veröffentlichung der Karikaturen "unnötig, unsensibel, respektlos und falsch". Der "Vorwärts", das Organ der SPD, verteidigte die Meinungsfreiheit im Allgemeinen, meinte aber, in diesem speziellen Fall würden die Dänen die Freiheit "missbrauchen, nicht im rechtlichen, aber im politischen-moralischen Sinne". Fritz Kuhn, 1955 geboren, hatte ein Déjà-vu: "Mich haben sie (die Karikaturen) an die antijüdischen Zeichnungen in der Hitler-Zeit vor 1939 erinnert." Womit der damalige Fraktionschef der Grünen bewies, dass er entweder ein sensationelles pränatales Gedächtnis oder noch keine einzige antisemitische Karikatur aus dem "Stürmer" gesehen hat.
Es war, als würden Blinde über Kunst, Taube über Musik und Eunuchen über Sex diskutieren - vom Hörensagen, denn abgesehen von "taz", "Welt" und "Zeit" waren alle deutschen Zeitungen und Magazine der Empfehlung von Claudia Roth gefolgt - "Deeskalation beginnt zu Hause" - und hatten auf einen Abdruck der Karikaturen vorsorglich verzichtet. So wie es auch der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter geraten hatte: "Der Westen sollte alle Provokationen unterlassen, die Gefühle von Erniedrigung und Demütigung hervorrufen..." Wobei Richter offen ließ, ob "der Westen" auch das Tragen von Miniröcken, den Genuss von Schweinefleisch und die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften unterlassen sollte, um keine Gefühle von Erniedrigung und Demütigung in der islamischen Welt hervorzurufen.
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