von Gerrit Liskow
Während die Lage in Ägypten am Samstag eskalierte und die Gewalt in Kairo und Alexandria heute restlos enthemmte Züge angenommen hat, immunisiert sich im sogenannten Westen die veröffentlichte Meinung vor den sich förmlich aufdrängenden Anfeindungen durch die Wirklichkeit, indem sie das Propagandamärchen vom „guten“, weil „volkstümlichen“ ägyptischen Frühling wiederbeleben möchte. In dieser Optik wird die seit drei Wochen anhaltende Auseinandersetzung zwischen dem Militär und der Moslembruderschaft durch jene „Tahrir-Platz versus Tyrannen“-Brille interpretiert, die schon beim ersten Mal nur Resultate produzierte, die dem Namen nach der Wirklichkeit entsprachen - nämlich der Wirklichkeit im Kopf einschlägig interessierter Politiker und Journalisten. Nach einem Jahr „arabischen Frühlings“ ergibt besagte Optik jetzt aber nur noch schräge Projektionen.
Wenn ein Blick in die Geschichte, insbesondere die deutsche Vor-, Nach- und Zwischenkriegsgeschichte, eins lehrt, dann dass Wahlen eine Gesellschaft nicht demokratisch machen. Immerhin wurde in Deutschland zu allen Zeiten, besonders während der „Weimarer Republik“, fleißig gewählt. Leider sehr lange ohne, dass die Gesellschaft dadurch demokratischer geworden wäre. Im Gegenteil: Wie der Blick in jedes handelsübliche Lehrbuch der deutschen Geschichte zeigt, kam dabei sogar jener Nationalsozialismus als demokratische legitimierter Sieger der Herzen heraus, der nach dem Hitler-Putsch 1923 den langen Marsch durch die Instanzen antreten durfte und knapp zehn Jahre später sein Ziel erreicht hatte; ein langer Marsch, bei dem das Berufs-„Linke“ Deutschland nicht mehr grün vor Neid werden müsste, denn es hat sich längst etabliert.
Wer trotz dieses geschichtlich eindeutigen Befundes im Westen - zu dem ja irgendwie auch dieses wiedergutgewordene Germany gehören möchte, zumindest jenes Stück weit, das seinem „kritischen Dialog“ und seinen lukrativen Handelsbeziehungen mit dem Iran nicht von wegen irgendwelcher moralischer Imperative im Wege steht (Lage der Menschenrecht im Mullah-Staat, Existenz des jüdischen Staates, und andere derartige „Details“) - an der Vorstellung festhalten möchte, Ägypten wäre durch die Wahl Mohammed Mursis vor einem Jahr plötzlich irgendwie demokratischer geworden, beweist eine bemerkenswert naive, reduzierte, hierzulande aber typische, tröstliche und vermutlich nach wie vor mehrheitsfähige Auffassung von gesellschaftlicher und persönlicher Selbstbestimmung.
Die einfache Gleichung „Mursis Moslembüder gut – Sisis Junta böse“ verkennt und verleugnet die gesellschaftliche Entwicklungsdimension Fortschritt versus Rückschritt möglicherweise zweckdienlich, auf jeden Fall aber zwangsläufig. So ist das nun mal, wenn man auch drei Generationen nach dem Nationalsozialismus noch immer nichts von der Unterscheidung zwischen Primärtugenden und Sekundärtugenden wissen möchte! Mursi wurde gewählt, das ist richtig, aber dabei scheint es zumindest auf dem Land, wo zwei Drittel aller Ägypter leben, nicht ganz korrekt zugegangen zu sein, um es mal so freundlich wie möglich zu sagen. Ungefähr ein Drittel aller Ägypter sind Analphabeten, haben also nur sehr eingeschränkten Zugang zu Informationen und kaum Möglichkeiten zur unabhängigen Meinungsbildung. Und den Rest hat ein florierender Stimmenhandel mit Zuwendungen und kleinen Geschenken aller Art besorgt, von Brillengestellen über Handys bis zu Medikamenten und Sonnenblumenöl. Die einzige nennenswerte „politische“ Infrastruktur außerhalb der Metropolen Kairo und Alexandria hatte und hat die Moslembruderschaft, und ihr Programm kündigt die sukzessive Errichtung einer absoluten islamistischen Theokratie unumwunden als ihr wesentliches und wichtigstes gesellschaftliches und politisches Ziel an.
Wenn das Abschneiden solcher gesellschaftlicher Kräfte bei den Wahlen vor einem Jahr insbesondere in Deutschland von den professionellen Schlaumeiern vom Staatsfunk und ihren Wasserträgern bei etablierten Instituten wie den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ und dem in Hamburg ansässigen „Deutschen Orient-Institut“ als „Sieg der Demokratie - hurrah!“ gefeiert wurde, dann legen besagte Einrichtungen damit nicht nur eine recht bemerkenswerte Auffassung von Demokratie an den Tag, sondern auch eine beunruhigende Affinität zu politischen Zielen, wie sie unter dem Schleier des „links-liberalen“ Konsenses reaktionärer nicht sein können. Die etablierten „linken“ Reaktionäre in Germany bedeuten weder für die demokratische Reife des jetzigen Komplexes von Medien und Politik noch für die Zukunft dieser Sozietät insgesamt etwas Gutes, verraten vor allem aber die Menschen in Ägypten hinsichtlich ihrer legitimen Ansprüchen hinsichtlich individueller und sozialer Emanzipation mit inbrünstiger Bestialität.
Natürlich muss es vor dem Hintergrund einer weiterhin freiwillig-unfreiwillig unverstandenen und unverarbeiteten deutschen geschichtlichen Erfahrung tröstlich erscheinen, wenn auch andere Gesellschaften sich „aus freien Stücken“ und „in demokratischen Wahlen“ für Regression und Vernichtung entscheiden würden („ach, täten sie‘s doch bloß!“, hört man die einschlägig interessierten Stellen in Staat und Politik förmlich seufzen). Aber wenn sich insbesondere das „links“-deutsche Establishment mal wieder instinktsicher mit einer amoklaufenden Selbstmordsekte wie der Moslembruderschaft identifizieret, dann zeigt sie damit in aller zu Gebote stehenden Deutlichkeit, wessen Geistes Kind dieses deutsche Establishment im Grunde seines Herzens seit dem 8. Mai 1945 stets geblieben ist.
In Ägypten hat die Moslembruderschaft, nach anhaltenden Protesten für die Militärregierung am Freitag, heute genau die Schlagzeilen produziert, von denen sie möchte, dass sie gelesen werden und die Ereignisse produziert, von denen sie möchte, dass sie sich ereignen, weil sie ihrer Sache dienen. Die islamistische Selbstmordsekte hat ihre Fußtruppen ins Messer kommandiert und sie in einem kalkulierten Manöver medienwirksam über die Klinge springen lassen. Die ägyptischen Sicherheitskräfte haben der Moslembruderschaft heute zum zweiten Mal in zwei Wochen den Gefallen getan, vom Ausnahmezustand (der Entscheidung über Leben und Tod) vollumfänglich Gebrauch zu machen. Um das Verhalten der Sicherheitskräfte mit einem klassischen Vietnam-Zitat zu illustrieren: Das Militär hat das Dorf gerettet, indem es das Dorf vernichtet hat.
Ergebnis: Die Schätzungen oszilieren zwischen 21 (Innenministerium) und 220 (Moslembrüder) Toten und tausend (Reuters) und 4.500 (Moslembrüder) Verletzten. Westliche Medien gaben die Zahl meist mit 75 bis 120 Toten an. Schon angesichts ihrer geradezu grotesk anmutenden Übertreibungen blamiert sich die Moslembruderschaft als „Politik“ gewordener Todestrieb, rationalisiert durch das Ziel, sich zurück an die Macht zu suizidieren. Es ist ebenso wenig ersichtlich, dass den Moslembrüdern die „Märtyrer“ ausgehen, wie, dass die Sympathie mit ihnen gerade im „links“-deutschen Establishment und dessen Groupies in eine emotionale Krise geriete.
haolam
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