Noch ist ungeklärt, ob Einzeltäter oder eine terroristische Gruppe die Anschläge mit Kofferbomben geplant haben. Der Anwalt eines Verdächtigen nährt die Spekulationen über ein Netzwerk. von ron steinke
Rechtsanwalt Bernd Rosenkranz besucht Youssef el-H. einmal in der Woche. Dann spricht er mit seinem Mandanten durch eine Trennscheibe. Der Anwalt erzählt der Jungle World, dass Familienangehörige bisher noch nicht den Weg ins Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit gefunden hätten, wo der 21jährige abgeschottet von den übrigen Häftlingen auf das Ergebnis seines Ermittlungsverfahrens wartet und zu den Vorwürfen, die gegen ihn erhoben werden, schweigt.
Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie Youssef el-H. vor gut zwei Monaten, am 31.Juli, einen schwarzen Koffer in einem Regionalzug platzierte. Darin wurde später ein Sprengsatz gefunden, der nach Angaben des Bundeskriminalamtes gereicht hätte, um eine Explosion vom Ausmaß der Anschläge auf die Londoner U-Bahn im Juli 2005 auszulösen. Nur wegen eines Konstruktionsfehlers endete die Bombe als Blindgänger. Dem Sprengsatz war eine Packung Speisestärke beigelegt, die, vermischt mit Benzin, bei den Opfern offenbar besonders schwere Verbrennungen herbeiführen sollte.
Der 20jährige Jihad H. sitzt unterdessen in Beirut in einem Spezialgefängnis und wird von einem libanesischen Ermittlungsrichter vernommen. Zur gleichen Zeit wie Youssef el-H. soll auch er eine Bombe in einem Regionalzug abgestellt haben; die Videoaufnahmen der Überwachungskameras zeigen ihn am Tag der Anschläge auf dem betreffenden Bahnhof.
Die deutschen Ermittler, die zunächst auf eine rasche Auslieferung von Jihad H. drängten, machen sich inzwischen keine Hoffnungen mehr darauf, ihn in naher Zukunft in Deutschland verhören zu können. Stattdessen verfolgen sie nun die Geschehnisse im Libanon. Generalbundesanwältin Monika Harms deutete im Focus an, Jihad H. habe bereits Angaben gemacht, »die zum Teil sehr konstruktiv sind und Rückschlüsse erlauben«. Sein Anwalt, Fawaz Zakaria, sagte in der vorigen Woche dem Kölner Stadtanzeiger, er sehe seinen Mandanten allenfalls als »letztes Glied« in einer »Kette des Terrors«. Er habe »detaillierte Informationen über eine Terrorzelle, die größer ist, viel größer«.
Der dritte Tatverdächtige, der 23jährige Syrer Fadi al-S., ist inzwischen aus der Untersuchungshaft in Stuttgart-Stammheim entlassen worden. Ursprünglich wurde ihm vorgeworfen, Jihad H. und Youssef el-H. bei ihrer Flucht, die über die Türkei und Syrien in den Libanon führte, vom Flughafen in Damaskus abgeholt und untergebracht zu haben. Da die Ermittler hierfür jedoch keine Beweise vorlegen konnten, wurde Fadi al-S. am 14.September wieder freigelassen.
Das Verfahren gegen den Syrer ist aber keineswegs eingestellt. Sein Verteidiger Wolfgang Ferner spricht von einer »Verwechslung« und beschwert sich im Gespräch mit der Jungle World über den »Ermittlungsübereifer« der Bundesstaatsanwaltschaft. Er vermutet, die Ermittler würden an ihrem Verdacht gegen Fadi al-S., der seine Unschuld beteuert, vor allem deswegen festhalten, weil man zur Konstruktion einer »terroristischen Vereinigung« nach Paragraph 129a Strafgesetzbuch unbedingt drei Täter brauche. Die Ermittler sehen das naturgemäß anders. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes soll vom Computer von Fadi al-S. aus im Internet nach Konstruktionsplänen für die Bomben gesucht worden sein.
In den Wochen nach den versuchten Anschlägen wurde von so genannten Terrorismusexperten mit besonderer Vorliebe die Theorie verbreitet, die Kofferbomber seien erst durch den Ausbruch der Kämpfe zwischen der Hizbollah und Israel am 12.Juli oder durch die angebliche Tötung eines Bruders von Youssef el-H. durch eine israelische Rakete radikalisiert worden. Quittungen belegen jedoch inzwischen, dass die Bauteile für die Bombe bereits Anfang Juli gekauft wurden, also deutlich vor dem Ausbruch der Kämpfe im Nahen Osten.
Die Frage, ob hinter den Hauptverdächtigen ein terroristisches Netzwerk steht, ist auch nach zwei Monaten noch Gegenstand von Spekulationen. Die bisher wohl am häufigsten verbreitete These lautet, die Kofferbomber kämen aus dem Umfeld der Kalifatspartei Hizb ut-Tahir (Partei der Befreiung), die nach Schätzungen des Verfassungsschutzes in Deutschland etwa 300 Anhänger vor allem in Studentenkreisen hat. Ihre Verwünschungen des »ungläubigen« Westens und Aufrufe zum Mord an Juden kann man im Internet und in ihrer deutschsprachigen Zeitschrift explizit seit Jahren offen einsehen. Dennoch ist die Hizb ut-Tahir hierzulande erst im Jahr 2003 verboten worden, nachdem auf einer ihrer Veranstaltungen vor dem Irak-Krieg die NPD-Funktionäre Horst Mahler und Udo Voigt aufgetaucht waren.
Konkrete Anhaltspunkte für eine Beteiligung der Hizb ut-Tahir an den geplanten Anschlägen mit Kofferbomben gibt es nach wie vor nicht. Das Bundeskriminalamt hat lediglich erklärt, dass einzelne »Mitglieder der großen und unübersichtlichen Familie« von Youssef el-H. im Libanon der Partei angehören, woraufhin die Hizb ut-Tahir für kurze Zeit ein großes Medieninteresse erfuhr und sich selbst die NPD plötzlich zu einer Distanzierung veranlasst sah. Die Berliner Islamismus-Forscherin Claudia Dantschke vom Zentrum Demokratische Kultur bezweifelt eine direkte Verwicklung der Kalifatspartei: »Hizb ut-Tahir wird in Europa nicht terroristisch aktiv. Sie hat keine solche Kommandostruktur. Sie schafft eher ein Milieu, eine ideologische Aufrüstung, mit der die Aktivisten dann auch ganz selbständig ausschwärmen.«
Die libanesischen Sicherheitsbehörden vermuten hingegen eine Verbindung zu al-Qaida. Daran wiederum zweifelt auch das Bundeskriminalamt öffentlich. Es verweist auf große Unterschiede zu den Anschlägen auf Nahverkehrszüge in Madrid und London, welche aufgrund von Bekennervideos der al-Qaida zugeschrieben werden. So sollten die Sprengsätze in Deutschland in eher schwach besetzten Zügen und nicht zur Hauptverkehrszeit explodieren. Zudem ließen die Konstruktionsfehler der selbst gebastelten Bomben kaum auf das Know-how eines terroristischen Netzwerks schließen. Nach Angaben des Spiegel hatten die Kofferbomber schlicht das falsche Gas gekauft.
Für die deutschen Behörden ist daher auch zwei Monate nach der Tat noch alles offen. »Es wäre unredlich, sich da an Spekulationen zu beteiligen«, sagt ein Sprecher der Bundesanwaltschaft. Momentan warte man die Aussagen von Jihad H. vor dem Ermittlungsrichter in Beirut ab.
Mit dem Spekulieren halte sich die Bundesstaatsanwaltschaft aber selbst keineswegs zurück, kritisiert der Verteidiger von Youssef el-H., Bernd Rosenkranz. »Nur in den Raum zu stellen, die logistische Arbeit für den versuchten Anschlag erfordere mindestens drei Personen, ist Quatsch. Diesen Anschlag konnten auch zwei alleine begehen.«
Zumindest in einem Punkt sind sich alle Beteiligten einig: Mit einer Gerichtsverhandlung und also einer öffentlichen Beweisaufnahme vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf ist in näherer Zukunft nicht zu rechnen. In der Formulierung von Rechtsanwalt Rosenkranz klingt das so: »Ich gehe davon aus, dass die Bundesanwaltschaft die sechs Monate, für die man einen Beschuldigten ohne Anklage in Untersuchungshaft halten darf, ausschöpfen wird.« Bis dahin wird Youssef el-H. wohl weiterhin jede Woche einen Termin mit ihm an der Trennscheibe haben.
jungle-world.com
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