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Beginnen wir mit dem Amoklauf von Colorado 2: In den deutschen Medien war zu lesen, was nach solchen Amokläufen immer zu lesen ist: Amerikas kulturindustrielle Produktion – vom Actionfilm bis zum Ego-Shooter – sei gewaltverherrlichend und bringe die Jugendlichen auf dumme Gedanken. Vor allem aber liege das Problem darin, dass Waffen in den USA nur allzuleicht zugänglich seien. So wies Die Zeit darauf hin, dass „in keinem anderen Land das Recht, Waffen zu tragen, so erbittert verteidigt wird, nicht nur von der NRA“ (Die Zeit, 21.7.12). Und die Redaktion der Welt ließ gar die „Politaktivistin und Sozialkritikerin“ Naomi Wolf ihre Überlegungen über die Frage ausbreiten, „warum die USA so süchtig nach dieser außergewöhnlichen Art der Gewalt sind“ (3.8.12). Angeekelt stellte sie fest: „Das Grauen ist fast zur Routine geworden. Schauplatz des Massakers war dieses Mal ein Kino in Aurora, Colorado, in dem der angeklagte Schütze James Holmes Dutzende von Kinobesuchern tötete und verletzte. 1999 war es die nahe gelegene Columbine High School.“ Wer an dieser Stelle stutzte, weil die scheinbar mühelose Aneinanderreihung von Amokläufen doch ausgerechnet zwei Ereignisse miteinander verknüpfte, die immerhin 13 Jahre auseinanderliegen, sollte sich im nächsten Satz bestätigt finden. Da heißt es: „Nach verschiedenen Schätzungen gibt es pro Jahr über 20 Amokläufe in den Vereinigten Staaten.“ Was das für „verschiedene Schätzungen“ sind und wieso es überhaupt Schätzungen bedarf, wo doch die genaue Anzahl – eine passende Definition vorausgesetzt – ziemlich problemlos zu bestimmen ist, verriet die dem linken Flügel der Demokratischen Partei nahestehende Wolf nicht, denn es ging ihr um den unbedingten Nachweis, dass die USA sich aufgrund des liberalen Waffenrechts und der Macht der Lobbyisten in einem wahren Blutrausch befänden. Deshalb dachte sie auch nicht über die doch eigentlich merkwürdige Tatsache nach, dass in einem Land wie Deutschland, wo eines der repressivsten Waffenrechte der Welt herrscht, ebenfalls in regelmäßigen Abständen Amokläufe stattfinden. In den letzten zehn Jahren gab es in Deutschland zwölf, in den USA – mit einer etwa viermal so hohen Bevölkerungszahl – fünfzehn solcher weder politisch noch unmittelbar persönlich motivierten Gewalthandlungen, die auf den Tod sich rein zufällig am Ort befindlicher Menschen abzielten. 3 Das bedeutet, so unglaublich es für den europäischen Leser klingen mag, dass es keine nachweisbare Korrelation zwischen dieser Form von Gewalt und liberalem Waffenrecht gibt. Die betrübliche Nachricht lautet: Wer unbedingt Menschen erschießen will, schafft das in der Regel auch.
Gleiches lässt sich selbstverständlich nicht über die Gesamtzahl der Gewaltverbrechen mit Schusswaffenbeteiligung sagen – hier liegt die Zahl in den USA deutlich höher. Doch man muss gar nicht apologetisch auf die eigentlich banale Tatsache hinweisen, dass Messer ebenfalls tödliche Waffen sind, man muss nicht einmal darauf aufmerksam machen, dass auch das jüngste shooting vor dem Empire State Building (das kein Amoklauf war) durch das eher repressive Waffenrecht des Bundesstaates New York nicht verhindert werden konnte, um deutlich zu machen, dass jene verlogene Kritik des US-Waffenrechts in Wahrheit auf ein Grundprinzip der amerikanischen Demokratie abzielt: dass nämlich die Bürger sich im Zweifelsfall gegen den Staat wehren können müssen, wenn dieser als Tyrann auftreten sollte. So heißt es bei Alexander Hamilton in den Federalist Papers: “If the representatives of the people betray their constituents, there is then no recourse left but in the exertion of that original right of self-defense which is paramount to all positive forms of government, and which against the usurpations of the national rulers may be exerted with infinitely better prospect of success than against those of the rulers of an individual State. In a single State, if the persons entrusted with supreme power become usurpers, the different parcels, subdivisions, or districts of which it consists, having no distinct government in each, can take no regular measures for defense. The citizens must rush tumultuously to arms, without concert, without system, without resource; except in their courage and despair.” 4 Die Volksbewaffnung galt mithin den Gründungsvätern als Garant dafür, dass die repräsentative Gewalt – also die Vermittlungsform souveräner Gewalt – nicht missbraucht werde. Wer diesen Gedanken verwirft, der ist schon auf jenen europäischen Weg eingeschwenkt, von dem sich die amerikanischen Bürger aufgrund der Erfahrungen auf dem alten Kontinent bewusst distanziert hatten. 5 Wie in Hegels Rechtsphilosophie mustergültig ausgeführt, gilt den Deutschen – und, seit der Niederlage der Sansculotten, ganz besonders den Franzosen – einzig der gegenüber den Bürgern verselbständigte Staat als legitimer Träger des Gewaltmonopols. Jene haben nur das Recht – das ironischerweise zugleich „Pflicht“ ist –, den Staat gegen innere und äußere Bedrohungen zu verteidigen. Von Hegel über den „Volksstaat“ bis hin zur Freiheitlich-demokratischen Grundordnung zieht sich hier ein unsichtbares Band. 6 Die Gewalt ist also in beiden Systemen – den europäischen wie dem amerikanischen – fest verankert, nur wird in Europa der Bürger auf die Einfügung ins Staatssubjekt verpflichtet, während in den USA der Staat umgekehrt der Kontrolle des Volks überantwortet wird. Grover Glenn Norquists – eines Beraters von George W. Bush – berühmt gewordenes statement bringt dieses Verständnis auf den Punkt: „I‘m not in favor of abolishing the government. I just want to shrink it down to the size where we can drown it in the bathtub.” 7
Diese politische Bedeutung des amerikanischen Waffenrechts ist den meisten seiner deutschen Kritiker nicht bewusst. Wie von selbst gehen sie davon aus, dass der Waffen tragende Bürger eine Abnormität sei, die ausgemerzt gehöre. Sie können sich diesen Bürger gar nicht anders vorstellen denn als blutrünstigen Volksfeind. Warum das so ist, kann letztlich nur unter Rückgriff auf die Erfahrung des Nationalsozialismus erklärt werden, der zwar seine Vorläufer in der deutschen Geschichte hatte, aber doch als Inaugurator einer umfassenden gesellschaftlichen Umformierung begriffen werden muss.
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