Sunday, March 27, 2016

Radikalisierung, Islamophobie

«Der Kaiser ist nackt», konstatierte Gilles Kepel unlängst in der Tageszeitung «Libération». Der Pariser Islamexperte geisselte die Unfähigkeit von Frankreichs Geisteswissenschaftern, das Phänomen des einheimischen Jihadismus zu durchdringen. Schuld daran sei zum einen «eine gedankenlose Politik der Zerstörung», was Studienprogramme zur arabischen und muslimischen Welt angehe, sprich: der fortschreitende Abbau von Forschungs- und Lehrstellen für Spezialisten an den Universitäten und Instituten der in diesem Feld einst führenden Grande Nation. Zum andern jedoch auch die «vernebelnde» Wirkung der Schlagworte «Radikalisierung» und «Islamophobie».
Zumal der Slogan «Islamisierung der Radikalität», den der Islamexperte Olivier Roy popularisiert hat, zeuge von intellektueller Unredlichkeit. «Die These hinter der griffigen Formel», so verdeutlicht Kepel im Gespräch mit der NZZ seine Kritik, «verwässert die Spezifik des einheimischen Jihadismus im Gemeinplatz eines Generationenphänomens: der islamistische Terror als Jugendrevolte, als Ausdruck des Nihilismus junger Menschen ohne Halt im Leben, als zeitgenössisches Pendant zu den Missetaten der Rote-Armee-Fraktion und der Brigate Rosse . . .» Das sei die Sichtweise einst linksorientierter Intellektueller, die wähnten, heute wiederhole sich, was sie in ihrer Jugend miterlebt hätten. Die Formulierung «Islamisierung der Radikalität» erlaube es ihnen, ihre Machtposition im akademischen Feld zu behaupten und vergessen zu machen, dass sie in jüngerer Zeit nicht viel zum Thema geforscht, weder Arabisch gelernt noch Gefängnisse oder Problem-Banlieues unter die Lupe genommen hätten.
Natürlich liessen sich Bezugspunkte zum Linksterrorismus von einst finden. Aber was dem Jihadismus ureigen sei – seine engen Bande zum Salafismus, sein umfangreicher Textkorpus, der eine einschlägige «Ideengeschichte» zu entwerfen gestatte –, werde so ausgeblendet. «Dabei gilt es gerade aufzuzeigen, dass den islamistischen Terrorismus eine Vision beflügelt, die auf einen Bruch mit den europäischen Werten abzielt, und dass er Ausdruck eines innerislamischen Kampfes um die Deutungshoheit gegenüber dem ‹wahren Glauben› ist.»
Ein Hinderungsgrund für ein besseres Verständnis des einheimischen Jihadismus ist laut Kepel auch der Vorwurf der «Islamophobie». Angriffe gegen Muslime, ihre Person oder ihre Güter seien fraglos rechtlich zu ahnden – wie gleichgeartete Attacken gegen Juden, Frauen, «Weisse», Homosexuelle usw. «Aber ‹Islamophobie› ist ein durch Salafisten geprägtes Schlagwort mit politischer Zielrichtung. Es sucht jegliche Kritik an ihrem eigenen Diskurs und an ihrem Streben nach Hegemonie mundtot zu machen. Irregeleitete Antirassisten leisten ihnen dabei Vorschub.»
Als frappantes Beispiel für diesen Vorgang zitiert Kepel den «Bannfluch» von 19 Akademikern gegen den algerischen Publizisten Kamel Daoud, der sich kritisch zu den Silvester-Übergriffen in Köln geäussert hatte. Kepel solidarisiert sich dezidiert mit Daoud – und verurteilt seine Kritiker scharf: «Eine kleine, ‹links-islamische› Sekte, deren Mitglieder unbedeutende Bücher publizieren, einander die Steigbügel halten, allerlei Kommissionen kolonisieren und so die junge Forschergeneration rekrutieren unter Ausschluss all derer, die nicht so denken wie sie . . .»
Gilles Kepel, Autor zahlreicher Bücher zum Spannungsverhältnis zwischen Muslimen und der westlichen Welt, lehrt in Paris an der Ecole normale supérieure und am Institut d'études politiques. Am 18. Mai wird er als Gast des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung in Zürich einen Vortrag zum Thema «Jihad in Europa» halten.

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