Sunday, March 12, 2006

Zum Tode von Slobodan Milosevics III

Heinz-Jürgen Schneider
Humanitaerer Einsatz

Serbische Opfer des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien haben vor dem Bonner Landgericht Deutschland auf Schadensersatz verklagt.
Der 30. Mai 1999 ist ein Sonntag. In der serbischen Kleinstadt Varvarin sind die Menschen in der Mittagszeit zu Tausenden auf dem Markt oder auf dem kirchlichen Fest der Heiligen Dreifaltigkeit. Der seit 68 Tagen andauernde Bombenkrieg der Nato gegen Jugoslawien hat bisher woanders stattgefunden. Varvarin ist sicheres Gebiet, Militär gibt es nicht, Menschen aus Belgrad werden hierher evakuiert.
Zwischen 13 und 13.25 Uhr greifen Nato-Kampfbomber die am Ortsrand liegende Brücke über den Fluß Morava an. In zwei Angriffswellen werden vier Raketen abgeschossen. Sanja Milenkovic und ihre Freundinnen Marijana Stojanovic und Marina Jovanovic sind, zu Fuß unterwegs, in der Mitte der Brücke, als sie Flugzeuggeräusche hören. Wenige Sekunden später detonieren zwei Raketen. Die Frauen werden in die Luft geschleudert und stürzen mit den Brocken der Brücke in den Fluß. Sanja ist am schwersten verletzt und verliert kurzzeitig das Bewußtsein. Dann kommt die zweite Angriffswelle, nochmals treffen zwei Raketen die Brücke. Bevor die drei Frauen geborgen werden können, vergeht über eine Stunde. Sanja Milenkovic stirbt noch am selben Tag im Krankenhaus von Krusevac. Sie ist 15 Jahre alt. Ihre Freundinnen überleben schwer verletzt.
Predrag Macic steht zum Zeitpunkt des ersten Angriffs am Ufer der Morava und angelt. Die Druckwelle schleudert ihn mehrere Meter durch die Luft. Von der Brücke kann er sich wegschleppen, bevor es zur zweiten Detonation kommt. Der Mittvierziger überlebt mit inoperablen Splittern im Körper und psychischen Dauerproblemen.
Nach den ersten Exlosionen laufen Bozidar Dimitrivic, Tola Apostolovic und Stojan Rictic wie Hunderte andere vom Markt in Richtung Brücke. Im Fluß sehen sie ein Auto treiben. Die drei Männer wollen die Insassen retten und geraten so in den zweiten Angriff. Zwei von ihnen werden getötet. Dimitrivic wird von der Druckwelle in die Büsche geschleudert. Er überlebt. Zehn Menschen werden durch den Angriff getötet, 17 schwer verletzt.
Im Operation Allied Force Update aus Brüssel mußte man am Folgetag lange nach der Erfolgsmeldung suchen. Doch mit Grenzposten, Petroleumlagern und Sendemasten war dort auch die highway bridge von Varvarin ein erfolgreich zerstörtes legitimes strategisches Ziel. Und dort stand auch: "Die Nato ist nicht in der Lage, serbische Berichte über Opfer zu bestätigen."
Vom Kollateralschaden zur Staatshaftungsklage
Mit dem Krieg gegen Jugoslawien wurde das Wort "Kollateralschaden" populär. Gemeint war eine Art Kriegsverbrechen light - die Tötung von Zivilisten ohne irgendeine Folge für die Täter. Daß es nun eine Ausnahme gibt, ist dem Engagement einer kleinen Gruppe von deutschen Kriegsgegnern zu verdanken. Sie schufen die finanziellen und juristischen Voraussetzungen für eine Premiere in der deutschen Justizgeschichte. Vor dem Landgericht Bonn konnten die Angehörigen der Toten und die Verletzten aus Varvarin eine Schadensersatzklage gegen die Bundesrepublik Deutschland erheben. Unter dem Aktenzeichen 1 0 361/02 geht es um Staatshaftung, rund 3,5 Millionen Euro und den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945.
Vom Bürgerlichen Gesetzbuch bis zum Humanitären Völkerrecht reichen die juristischen Ausführungen. Zwei Hauptargumente sollen die Klage begründen: ein schwerer Verstoß gegen das internationale Recht und eine gesamtschuldnerische Mithaftung des Nato-Tatbeteiligten Deutschland.
Die Regeln des Krieges und der besondere Schutz der Zivilbevölkerung wurden im 20. Jahrhundert völkerrechtlich kodifiziert. Die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konvention sind die bekanntesten Vereinbarungen. Ihre Einhaltung gilt als zivilisatorisches Minimum in einem Krieg. Die Verletzung dieser Regeln bildet die Grundlage der Varvarin-Klage.
Nicht im Prozeß juristisch nutzbar, aber politisch im Hintergrund stehen: Die Verletzung des Gewaltverbots der Uno-Charta durch den Angriffskrieg sowie dessen Verfassungswidrigkeit nach Artikel 26 des Grundgesetzes und Paragraph 80 des deutschen Strafgesetzbuchs. Individuelle Klagrechte ergeben sich aus diesen Normen aber nicht.
Über 30 Artikel im 1. Zusatzprotokoll von 1977 zur Genfer Konvention handeln vom Schutz der Zivilbevölkerung und unverteidigter Orte in Kriegszeiten. Schonung und Schutz der Zivilisten ist die Grundregel. Kriegshandlungen dürfen sich nur gegen militärische Ziele richten. Dies sind nur solche Objekte, die nach Zweckbestimmung und Standort wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren Zerstörung einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt. Schon die Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, ist verboten. Bei der Wahl der Mittel und Methoden sind alle praktisch möglichen Vorsichtsmaßnahmen gegen zivile Opfer zu treffen. Angriffen muß eine wirksame Warnung vorausgehen, unverteidigte Orte dürfen nicht angegriffen werden. Die Verletzung dieser Regeln hat Schadensersatzansprüche zur Folge.
In Varvarin befanden sich keine militärischen Einrichtungen. Die nächste Kaserne war 22 km entfernt. Die jugoslawische Staatsgewalt bestand aus drei Polizisten. Die Kleinstadt ist rund 200 km vom Kosovo entfernt, in diese Richtung verläuft eine Autobahn. Varvarin erreicht man nur über Nebenstraßen. Die rund 75 Jahre alte Brücke hatte nur eine Traglast von zwölf Tonnen und war für Schwertransporte nicht passierbar. Für Militärverkehr wurde sie während des Krieges nicht genutzt. In Richtung Kosovo führen die Straßen ins bergige Nirgendwo. Verteidigenswerte Anlagen gab es weder in der Stadt noch sonst in der Region. Für die Nato-Piloten herrschten bei gutem Wetter klare Sichtverhältnisse. Eine Warnung vor dem Ausklinken der Raketen erfolgte nicht. Alle Toten und Verletzten waren Zivilisten. Ein Bruch des humanitären Völkerrechts also, ein Kriegsverbrechen.
Die Nationalität der am Angriff beteiligten Maschinen ist nicht geklärt. Für den Prozeß ist dies aber nicht entscheidend. Die BRD ist Mittäter. Deutsche politische und militärische Handlungen waren arbeitsteilig in Nato-Strukturen für den Krieg wie für den konkreten Angriff auf Varvarin und seine Folgen verantwortlich.
Im Oktober 1998 wurden mit deutscher Zustimmung im Nato-Rat die Operationspläne für den kommenden Krieg verabschiedet. Wie es danach weiterging, hat General Walter Jertz dem "Focus" erläutert: "Ihre militärischen Vorstellungen und Wünsche mußten die einzelnen Nationen vor einer Militäroperation einbringen und mit den Partnern abstimmen. Auch in der Zielauswahl und der Frage, welche Ziele überhaupt angegriffen werden durften, mußten die Beteiligten vorher übereinstimmen. Wenn eine Nation mit einem Ziel nicht einverstanden war, wurde es von der Liste gestrichen."
Während des Krieges sah die deutsche Praxis dann so aus: Tornados der Bundesluftwaffe flogen Einsätze zur Aufklärung und als Begleitschutz, besonders aber zur Ausschaltung oder Behinderung der jugoslawischen Luftabwehr. Deutsche Stabsoffiziere waren Teil der Kommandokette, die Zielorte und Angriffszeiten festlegte. Es gab nie ein Veto.
Völkerrechtskonforme Gründe hätte es dafür genug gegeben. International bekannt geworden waren bereits die "Kollateralschäden" bei Angriffen auf einen Flüchtlingskonvoi bei Prizren, auf das RTS-Sendezentrum in Belgrad und den Marktplatz von Nis. Mit den Bomben auf die chinesische Botschaft hatte sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschäftigt. Nach den zivilen Opfern der Bombardierung von Djakovica am 14. April - so Nato-Vertreter nach dem Krieg gegenüber Amnesty International - wurden die Piloten angewiesen, ihre Sicherheitshöhe von 15.000 Fuß zu verlassen und visuell zu ermitteln, daß sich keine Zivilisten in der Nähe des Ziels befinden.
Das Szenario von Varvarin am 30. Mai war eindeutig: Angriff um die Mittagszeit, keine Vorwarnung, PKW und Fußgänger auf der Brücke, größere Menschenmengen in ihrer unmittelbaren Nähe. Die Toten sind auch die Toten von Schröder, Fischer und Scharping.
Gegen Deutschland
Die Besonderheit des Bonner Verfahrens - sein prozessuales Ende ist noch nicht absehbar - liegt darin, daß das neueste Deutschland für Kriegshandlungen haften soll.
Als Rechtsnachfolger früherer Reiche ist die Bundesrepublik seit den 90er Jahren schon häufig verklagt worden. Bekannt wurde die "Distomo-Klage" in Griechenland. Andere griechische Opfer von Wehrmachtsverbrechen prozessieren vor deutschen Gerichten. Klagen von Zwangsarbeitern und Arbeitssklaven im Nationalsozialismus wurden in der BRD und den USA erhoben. In diesem Jahr leitete die namibische Herero Peoples Reparation Corporation in New York ein Verfahren gegen Bundesregierung, Deutsche Bank u.a. ein. Sie verlangen zwei Milliarden Dollar für Kolonialverbrechen im ehemaligen "Deutsch-Südwestafrika" in den Jahren 1904-07.
Wer klagt muß mit Gegenwehr und juristischen Problemen rechnen. Nach robuster Intervention des Berliner Außenministeriums fand sich ein Sonderausschuß des Obersten Gerichts in Athen bereit, die bis dahin erfolgreiche Distomo-Klage abzuweisen. Über die Klage griechischer Opfer in Deutschland wird der Bundesgerichtshof entscheiden, beide Vorinstanzen haben die Kläger verloren. Die zahlreichen Zwangsarbeiter-Verfahren führten nicht zu rechtskräftigen Urteilen, sondern nur zur Gründung einer Entschädigungsstiftung. Was die "FAZ" heute noch schmerzt: "Obwohl es keinen rechtlichen Anspruch gab, führte die Drohung mit ›Nürnberger Prozessen‹ gegen die deutsche Industrie letztlich zur Zahlung von zehn Milliarden Mark."
Rechtliches Neuland betreten auch die Varvariner. Die von der Bundesregierung beauftragte Anwaltskanzlei hat beantragt, ihre Forderungen abzuweisen. Da der Sachverhalt nicht zu bestreiten ist, soll es der Klage an Zulässigkeit mangeln.
Die Argumente dafür stützen sich auf die klassische Auslegung und Praxis des Völkerrechts. Seiner Entstehungsgeschichte nach regelte es nur die Rechtsverhältnisse zwischen Staaten. Opfer von Kriegsverbrechen sollen auf Friedensverträge und Reparationsleistungen warten. Verliert "ihr" Heimatstaat, gibt es eben keine Entschädigung. Eine direkte Klage vor Gerichten des "Schädigerstaates" sei ausgeschlossen. Anderenfalls drohe ein "Wettlauf individueller Anspruchsteller, der leicht zu erheblichen diplomatischen Verwicklungen führen könnte", wie die Regierungsanwälte vorausschauend schreiben.
Das federführende Bundesverteidigungsministerium hat seinen Juristen auch einen politischen Angriff verordnet. Nach kurzem Bedauern der Opfer kommen sie schnell zur Sache. Der Prozeß verfolge unlautere Zwecke ("Nato-Tribunal"), der Kosovokrieg sei eine gute Sache gewesen ("Einsatz zur Abwendung einer drohenden humanitären Katastrophe"), und der Balkan sei undankbar ("Finanzhilfen der Bundesregierung ... für die humanitäre Hilfe und Demokratisierung" nach dem Krieg).
Im Schriftsatz von 19. Dezember 2002 - Gerhard Schröder gibt gerade erfolgreich den Friedenskanzler - geht es dann noch um Leichen. "Der Umstand, daß es nur in 0,4 bis maximal 0,9 Prozent der Einsatzfälle zu zivilen Opfern kam, belegt, daß die Nato alles ihr Mögliche getan hat ..."
Wie viele tote Zivilisten die deutsche Regierung als unvermeidlich hinzunehmen bereit ist, ergibt sich aus einer Anlage des Schriftsatzes: 495.
Konkret,7,2003

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