Der Sieg der Hamas ist eine Kampfansage an Israel. Angeblich wollten viele Palästinenser nur die Fatah für ihre Korruption bestrafen. Jetzt wachsen die Zweifel bei den »Protestwählern«. von michael borgstede, ramallah
Auf den Straßen von Ramallah sind am Tag nach der Wahl fast mehr Journalisten als Palästinenser unterwegs. Mit Diktiergeräten, Kameras und Notizblöcken bewaffnet, suchen sie nach Stellungnahmen jener Wähler, die der islamistischen Hamas Mitte voriger Woche zum überraschenden Wahlsieg verholfen haben. Ein Pulk junger Männer zieht mit den grünen Fahnen der Islamisten über den Platz, sie skandieren etwas Unverständliches von »Islam« und »Palästina«. Im Nu stürzen sich ein Dutzend Fotografen und mehrere Kameramänner auf die Mini-Demo.
Fünf Minuten später ist genug Filmmaterial im Kasten, die Kundgebung löst sich genauso schnell wieder auf, wie sie sich gebildet hat. Dann fährt ein Kleinbus heran. Er ist mit den gelben Fahnen der Fatah hängen, der Beifahrer brüllt durch ein Megaphon: »Sieg für Fatah, Sieg für Fatah!« Das ist am späten Morgen bereits eine sehr gewagte Behauptung. Längst steht fest, dass die Fatah-Partei von Präsident Mahmoud Abbas ein miserables Ergebnis eingefahren hat. Der Wahlgewinner ist die Hamas, die nun die nächste Regierung im Alleingang bilden könnte.
Damit hat niemand gerechnet, am allerwenigsten die Hamas. Im Hauptquartier der Organisation können es viele noch kaum fassen. Hadir sitzt vor einem Computer und lässt immer wieder die Ergebnisse aus den einzelnen Wahlbezirken bunt animiert über seinen Monitor flackern. »So ein Wahnsinn!« sagt er. »Wir haben fast alle Direktmandate gewonnen.« Doch schon sein nächster Gedanke gilt der Zukunft: »Was machen wir jetzt?« Diese Frage wird die Hamas so schnell nicht wieder loslassen.
Bald ist klar: Allein regieren will die Hamas nicht, auch wenn sie es problemlos könnte. Noch vor Bekanntgabe des amtlichen Endergebnisses bekommt Abbas einen Anruf aus Damaskus. Der dort im Exil lebende Chef des Politbüros der Hamas, Chalid Meschal, will sich mit dem Präsidenten über eine mögliche Zusammenarbeit beraten. Auch in der Bevölkerung hofften viele zunächst auf eine »Regierung der nationalen Einheit«. »Mir wäre es am liebsten, wenn alle Parteien gemeinsam den Laden aufräumen würden«, sagt Chalid Abu Hassan, ein Automechaniker in Ramallah. »Wir Palästinenser sollten alle am selben Strang ziehen und gegen die Besatzung kämpfen, warum dann nicht auch eine gemeinsame Regierung?« Er habe jedenfalls die Hamas gewählt und stehe dazu. Doch die Fatah-Führung sieht ihr Heil in der Opposition, sie will nicht als Feigenblatt für die Islamisten fungieren. Das könnte die Hamas in große Schwierigkeiten bringen. Ein Hamas-Außenminister auf Staatsbesuch im Weißen Haus? Das übersteigt jegliche Vorstellungskraft.
Die Autonomiebehörde könne schon im Februar vor dem finanziellen Ruin stehen, warnt zudem der palästinensische Wirtschaftsminister Masen Sinokrot am Freitag im Fernsehsender CNN. »In der nächsten Woche müssen wir 100 Millionen Dollar an Gehältern auszahlen. Wo soll das Geld denn herkommen?« Es klingt fast wie eine Drohung, als er hinzufügt: »Wenn diese Gehälter nicht gezahlt werden, ist das wie eine Aufforderung zur Gewalt.« Die USA haben bereits angekündigt, mit einer Hamas-Regierung weder reden zu wollen noch ihr finanzielle Hilfe zukommen zu lassen. Andere westliche Geberländer müssen ihre Strategie im Umgang mit den regierenden Islamisten noch definieren.
Während Angela Merkel bei ihrem Israel-Besuch deutlich machte, dass eine Fortsetzung der Zahlungen nur in Frage komme, wenn die Hamas das Existenzrecht Israels anerkenne, der Gewalt abschwöre und die erreichten Schritte des Friedensprozesses akzeptiere, erklärte der französische Botschafter in Israel, Gerard Araud, die EU müsse prüfen, ob die Hilfsgelder künftig über Vermittler, beispielsweise Nichtregierungsorganisationen, an die palästinensche Autonomiebehörde transferiert werden könnten.
Israels Position ist hingegen klar und deutlich: Die Hamas sei »kein Partner«, sagt der amtierende Ministerpräsident Ehud Olmert. Eine Hamas-Regierung werde von den Vereinigten Staaten und Israel ignoriert und zur Bedeutungslosigkeit degradiert werden. Erste Befürchtungen, das Wahlergebnis könne im israelischen Wahlkampf der rechten Likud-Partei zugute kommen, haben sich dennoch nicht bestätigt. Stattdessen steigt die zentristische Kadima-Partei weiter in der Wählergunst und liegt in Umfragen nun bei 44 von 120 Knesset-Mandaten. Angesichts der Entwicklung in den Palästinensergebieten scheinen viele Israelis ihr Heil in weiteren einseitigen Rückzugsaktionen zu sehen. Und Olmert könnte auch ohne einen palästinensischen Partner dazu bereit sein, seinem politischen Ziehvater Sharon zu folgen und ohne Abkommen Siedler und Truppen aus einem Teil des Westjordanlands abzuziehen.
Wenig später zweifeln in Ramallah bereits einige an ihrer Wahlentscheidung: »Ich wollte der Fatah einen Denkzettel verpassen und habe deshalb die Hamas gewählt«, sagt Aya, eine Kindergärtnerin. Ihr Mann habe sie schon vorher gewarnt: »Wenn es hier demnächst zugeht wie in Saudi-Arabien oder im Iran, dann bist du schuld!« Aber ihre Wut auf die korrupten Fatah-Politiker sei einfach zu groß gewesen.
So wie Aya haben wohl viele Palästinenser gedacht und mit ihrem Protest in der Wahlkabine die Islamisten an die Macht geschwemmt. Und während man sich im Westen bereits große Sorgen um die Zukunft des Friedensprozesses macht, kann diese Gedanken im Westjordanland kaum jemand nachvollziehen. »Es ist ja nicht so, dass Abbas täglich mit den Israelis über ein Ende der Besatzung verhandelt hätte«, sagt auch Aya. »Den Friedensprozess, den die Hamas jetzt angeblich blockiert, den gibt es doch schon seit Jahren nicht mehr.« Ob sie sich denn persönlich einen Friedensschluss wünsche? »Ja natürlich«, entgegnet sie erstaunt. »Wer würde das denn nicht?« Sie habe jedenfalls kein Interesse daran, den Rest ihres Lebens unter israelischer Besatzung zuzubringen.
Aya ist nicht radikal, sie ist nicht arm und deshalb auch nicht auf die Hilfe der Islamisten angewiesen, sie ist nicht einmal besonders religiös und unterscheidet sich damit von den traditionellen Hamas-Anhängern. Wer in ihrem Namen und mit ihrer Stimme Politik machen will, darf es nicht zu weit treiben.
Die Hamas-Führer wissen nur zu gut, dass sie ihren Wahlerfolg nicht hauptsächlich ihrer unversöhnlichen Ideologie zu verdanken haben. Die Mehrheit der Palästinenser träumt keineswegs von einem islamischen Staat Palästina mit dem Gesetz der Sharia. Die ersten Äußerungen der Hamas-Führer deuten dann auch darauf hin, dass die Organisation kein Interesse daran hat, mit einer Eskalation ihren Rückhalt in der Bevölkerung wieder zu verspielen. Sollte Israel von Angriffen absehen, sei auch die Hamas bereit, den im Februar vergangenen Jahres vereinbarten Waffenstillstand zu erneuern, sagte Hamas-Führer Mahmoud al-Zachar.
Und doch hat die Organisation mehrmals unmissverständlich deutlich gemacht, dass der traditionelle Ruf nach der Zerstörung Israels nicht aus der Hamas-Charta entfernt werde. Pragmatische Politik auf der einen und ideologisch motivierter Terrorismus auf der anderen Seite – das ist ein Spannungsfeld, in dem die Hamas sich erst noch orientieren muss. Zunächst will die Organisation der Korruption ein Ende machen und sich innenpolitisch betätigen. Jeder Aspekt der Verwaltung solle verbessert werden, kündigte Mahmud al-Zachar an. Die Wirtschaft, Industrie, Landwirtschaft, Sozialhilfesysteme, Krankenversorgung und das Schulsystem will die Hamas einer Reform unterziehen – natürlich nach islamischen Regeln.
Während es im Gaza-Streifen bald zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der neuen Führung und wütenden Vertretern der abgewählten Fatah kam, fürchten viele im Westjordanland eine schleichende Islamisierung: »Am Ende müssen wir hier noch alle in die Moschee rennen, und die Mädels müssen Kopftücher tragen«, scherzt ein jugendlicher Mopedfahrer in Calvin-Klein-Jeans. Noch lachen seine Freunde darüber.
jungle-world.com
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