Außenminister Guido Westerwelle warb im Frühjahr für einen unvoreingenommenen
Umgang mit der islamistischen Muslimbruderschaft und verglich sie mit den
christlichen Parteien Europas. Der Politikwissenschaftler Volker Perthes
erklärte vor der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, im Vergleich zu manch
ultrareligiösem Präsidentschaftskandidaten in den USA seien die Muslimbrüder
aufgeklärte Liberale. Ivesa Lübben, Islamforscherin an der Philipps-Universität
Marburg, sagte vor einem Jahr im Interview mit pro, die Muslimbruderschaft sei
eine "normale politische Kraft". Wie sehr westliche Diplomaten und Experten sich
geirrt haben, wird nun offenbar.
Mitte des Monats tauchte ein drei Jahre
altes Video auf, das Mursis wahres Gesicht zeigt. In einem Interview schimpft er
auf die Israelis. "Blutsauger" seien sie, "Kriegstreiber" und "Nachkommen von
Affen und Schweinen". Im "Spiegel" berichtet ein Insider, Mursi sei ein "Meister
der Tarnung", er habe in der Vergangenheit vehement gegen
Demokratisierungsprozesse gekämpft. In Berlin rechtfertigte sich Mursi nun:
Seine Äußerungen seien aus dem Kontext gerissen worden. "Meine Religion
verpflichtet mich dazu, an alle Propheten zu glauben, alle Religionen zu
respektieren und das Recht der Menschen zur Glaubensfreiheit zu respektieren."
Zwei Gesichter habe der Mann aus Nordafrika, schreibt auch "Spiegel
Online"-Autor Raniah Salloum, der Mursis Berlin-Besuch journalistisch
begleitete. Zurückhaltend habe Mursi sich in Anwesenheit der Kanzlerin gegeben,
dafür aber umso selbstbewusster in einer abendlichen Runde im kleineren Kreis:
"Der Westen hat die arabischen Diktaturen unterstützt im Namen des Kampfs gegen
den Terrorismus. Das war nicht angenehm für die Menschen auf der anderen Seite",
sagte er bei einer Veranstaltung der Körber-Stiftung.
Dass Mursi nicht
mehr als ein geschickter Taktierer ist, war schon vor seiner Wahl zum
Staatsoberhaupt der Ägypter zu erkennen. Allein die Tatsache, dass die
Muslimbruderschaft die geistige Mutter der Hamas ist, spricht Bände. Radikaler
Islam bedeutet Totalitarismus. Islamismus schließt Demokratie aus. Westerwelle
und Co. haben schlicht die Augen davor verschlossen. Die Lage der Pressefreiheit
in Nordafrika ist zwei Jahre nach Beginn der arabischen Revolution laut
"Reporter ohne Grenzen" prekär. Am Mittwoch veröffentlichte die Organisation
ihre "Rangliste der Pressefreiheit". Demnach würden Journalisten und Blogger
häufig angegriffen, verhaftet oder vor Gericht gestellt. Die neue islamistische
Verfassung gefährde zudem journalistische Freiheiten. Gerade die Pressefreiheit
ist immer auch Indikator für alle anderen Freiheiten. Wer Meinung unterdrückt,
unterdrückt Menschen.
Hinzu kommt: In den letzten Tagen sind Dutzende bei
Protesten in Ägypten ums Leben gekommen. Das Land ist gespalten. Fortschritt
kämpft gegen Steinzeitislam. Bei seinem Deutschlandbesuch musste sich der
Staatschef rechtfertigen. Menschenrechtsorganisationen und Politiker haben einen
Richtungswechsel von ihm gefordert. Auf Nachfrage gibt sich auch der einst
optimistische Experte Perthes heute zurückhaltender. Die Lage in Ägypten habe
sich "nicht so gut entwickelt, wie möglich gewesen wäre". Weder unter den
Muslimbrüdern noch unter deren Gegnern fänden sich Demokraten, sagt er und
spricht von einem "unversöhnlichen Machtkampf in Kairo".
So bleibt ein
dreiviertel Jahr nach Mursis Amtsantritt die schlichte Erkenntnis:
Hoffnungsträger wurde er ohne viel Zutun. Der erwartete Friedensbringer ist er
nicht geworden.
pro
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