Antisemitismus unter muslimischen
Jugendlichen in Europa nimmt nach Auffassung des Islamwissenschaftlers
Michael Kiefer seit Jahren deutlich zu. Im domradio-Interview fordert er
ein Umdenken in der Bildungspolitik.
domradio.de: Woran machen Sie die Zunahme antisemitischer Haltungen oder gar Taten bei jungen Muslimen in Deutschland fest?
Kiefer: In der Tat haben wir hier keine präzisen
Zahlen. Aber wir können feststellen, dass es zunehmend Übergriffe gegen
jüdische Einrichtungen und Personen gibt. Es begann im Jahr 2000: in
Düsseldorf der Anschlag auf die Synagoge, in Essen der Vorfall vor der
Gedenkstätte. So kann man seither einen Vorfall zum anderen
hinzuaddieren. Insgesamt gesehen ist das das Problem in den letzten
Jahren angewachsen. Allerdings ist es kein gesamtmuslimisches Phänomen.
Wir haben es immer noch mit einer kleinen Zahl von Muslimen zu tun, die
hier offensichtlich antisemitischen Ansichten anhängen.
domradio.de: Der Antisemitismus der jungen Muslime
bezieht sich hierzulande meist auf Israel - da kann man sich ja ganz
naiv fragen: Die meisten dieser Muslime sind Türken - was haben die mit
Israel, was haben die mit den Palästinensern zu tun?
Kiefer: Das stimmt. Seit dem Gaza-Krieg im letzten
Sommer haben wir es hier verstärkt mit einer Solidarisierung im Bereich
der türkischstämmigen Muslime zu tun, die es so vorher nicht gab. Bis
zum Jahr 2000 gab es faktisch keine Übergriffe gegen jüdische
Einrichtungen und Juden. Das hat viel auch damit zu tun, wie der
Palästina-Konflikt medial inszeniert wird. Ab Mitte der 90er Jahre
findet das verstärkt über Satelliten-TV und Internet statt. Eine
hochemotionalisierte Berichterstattung hat dann diese Folgen.
domradio.de: Würden Sie denn sagen, dass dieser nach
Deutschland importierte Nahostkonflikt zum Ventil allgemeiner
Frustration von nicht integrierten Jugendlichen wird?
Kiefer: Es spielt sicher auch eine Rolle, dass viele
Jugendliche hier in Deutschland Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht
haben. Es gibt aber auch Menschen, die keine konkreten Diskriminierung
erlitten haben und trotzdem antisemitisches Verhalten an den Tag legen.
domradio.de: Wie kann man da gegensteuern?
Kiefer: Das ist schwierig, weil der Antisemitismus
in Deutschland ja kein neues Phänomen ist. Gegen den Antisemitismus in
der Migrationsgesellschaft haben die muslimischen Gemeinden zu wenig
getan. Aber auch unser Bildungssystem hat nicht genug getan.
Seit einigen Jahren nun sind die Gemeinden in dieser Richtung aber
sehr aktiv. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime Aiman Mazyek
fordert ja deutlich von den Gemeinden eine Abgrenzung gegenüber
jeglichem Antisemitismus. Wir müssen aber auch über die Schulfächer
Religion und Werteerziehung noch mal neu nachdenken. Hier ist mehr
Dialogarbeit und Begegnungsarbeit notwendig. Das muss mehr in den
Lehrplänen verankert werden.
domradio.de: Ist das ein gesamteuropäischer Trend?
Bei den jüngsten Anschlägen in Paris haben schließlich auch junge
Muslime ganz gezielt Juden angegriffen und getötet?
Kiefer: Das ist eindeutig ein gesamteuropäisches
Phänomen. Gerade in Frankreich ist es in den vergangenen Jahren zu
schlimmen antisemitischen Anschlägen gekommen, aber auch in Belgien und
Dänemark hatten wir diese Taten. Die Liste der Anschläge wächst, daran
kann man erkennen, dass für jüdische Gemeinden in ganz Europa eine
beträchtliche Gefahr besteht.
domradio.de: Es gibt ja in Deutschland die Debatte,
ob sich Juden in bestimmten Stadtteilen mit hohem muslimischen
Bevölkerungsanteil nicht mehr als Juden zu erkennen geben sollten.
Kiefer: Ich halte das für keinen Weg. Das wäre ja
eine Kapitulation, wenn Menschen sich nicht mehr zu ihrer Religion
bekennen könnten. Wenn diese Probleme bestehen, müssen sie angegangen
werden. Das ist die Antwort. Eine Vermeidung von religiösen Symbolen
kann nicht die Antwort sein.
domradio
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