Monday, November 20, 2006

Über Amokläufer, Selbstmordattentäter und unverwundene Verluste

Arie Moscovici
Enzensbergers ‚Schreckens Männer’
Was haben ein Amokläufer in einer Schule und ein islamistischer Selbstmordattentäter gemeinsam? Richtig: beide sind radikale Verlierer. Man kann hier durchaus von einem Typus sprechen. Und genau das tut Enzensberger in seinem Essay über „Schreckens Männer“, in dem er dessen Psychogramm skizziert. Dass er sich dem Sujet dabei nicht von einer wissenschaftlichen Warte nähert, trübt die bestechende Schärfe der Betrachtung keineswegs. Fernab von ideologischem Reduktionismus wird bereits zu Beginn festgestellt: „Mit den Kategorien der Klassenanalyse ist den Widersprüchen, um die es hier geht, allerdings kaum beizukommen.“ Nicht die materielle Situation alleine ist dafür entscheidend, ob jemand zum radikalen Verlierer wird, sondern seine Interpretation der Wirklichkeit. „Der Versager mag sich mit seinem Los abfinden und resignieren, das Opfer Genugtuung fordern, der Besiegte sich auf die nächste Runde vorbereiten. Der radikale Verlierer aber sondert sich ab, wird unsichtbar, hütet sein Phantasma, sammelt seine Energie und wartet auf seine Stunde.“ So ist es wohl auch wenig erstaunlich, dass es sich bei radikalen Verlierern meistens um Männer handelt. „Dem, der sich eine Überlegenheit zuschreibt, die in der Vergangenheit als selbstverständlich galt, und der sich nicht damit abgefunden hat, dass die Tage dieses Primats abgelaufen sind, wird es unendlich schwer fallen, mit seinem Machtverlust fertigzuwerden“ Entscheidend ist hierbei nicht so sehr, wovon andere einen zu überzeugen versuchen, sondern das, was Mann – und manchmal auch Frau - sich selber einredet. So erklärt sich, warum arme Menschen nicht notwendigerweise Amok laufen oder sich (und andere) in die Luft sprengen, zumal soziologische Befunde ebenfalls dafür sprechen, dass es sich beim Selbstmordattentat vor allem um ein Phänomen der Mittelklasse handelt: Ein Argument, das jedoch gerade in der von simplifizierender Ursachenforschung und Tätermitleid geprägten hiesigen Medienmentalität wohltuend wirkt. Statt also die Dinge so hinzunehmen, wie sie sind, ist eine scharfe Kritik am gegenwärtigen Zustand der arabisch-islamischen Kultur angesagt. Hier stützt sich Enzensberger vor allem aus dem Arab Human Development Report, der von arabischen Intellektuellen im Auftrag der UNO erstellt worden ist und in der eigenen Gesellschaft gravierende Defizite von der politischen Freiheit bis zum Wissenstransfer feststellt. Diese Dichte an erschütternden Befunden kontrastiert er mit der arabischen Hochkultur des Mittelalters, welche eine Mentalität der kulturellen Überlegenheit hervorgebracht hat. Die sich ergebende Fallhöhe ist in der Tat enorm.Die aus der Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität resultierende narzisstische Kränkung ist allgegenwärtig. Statt sich den endogenen Faktoren, die sowohl für den Niedergang als auch für das Demütigungsgefühl entscheidend sind, zuzuwenden, werden die Probleme mittels Projektion externalisiert. Die Folgen: Verschwörungstheorien, Antisemitismus und extreme Reizbarkeit „auf jede vermeintliche oder reale Beleidigung“.Diese auf notorischer Ich-Schwäche beruhende Unsicherheit bedingt die Flucht ins unverhandelbare Absolute mittels Aktion. An dieser Stelle offenbart sich einmal mehr die Keimzelle eines totalitären Denkens, das sich für seine antimodernistischen Ziele schamlos im Arsenal modernster westlicher Erzeugnisse und Methoden bedient und sich letztlich neben der Vernichtung der Anderen vor allem die eigene herbeisehnt. „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod, und deshalb werden wir auch siegen“, lautete das Bekenntnis der Attentäter von Madrid. Erst das Selbstmordattentat kann Größenwahn und Selbsthass miteinander versöhnen. Ein historisch nur allzu bekanntes anderes Verliererkollektiv steht hierfür Modell: Den Nazis ging es in ihrem Vernichtungskrieg, so Enzensberger, womöglich nicht um den wenig aussichtsreichen Sieg Deutschlands im Diesseits sondern letztlich um den kollektiven Selbstmord. Hitler selbst – der Archetypus eines radikalen Verlierers - meinte im Bunker der letzten Kriegstage, das deutsche Volk hätte es nicht verdient zu überleben. In der Niederlage hat er sich schließlich verwirklicht. Die Juden und die Anderen gibt es hingegen immer noch: Le chajim!
Hans Magnus Enzensberger: Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer. (Suhrkamp, 2006, FfM); ISBN 3518068202; EUR 5,00
"die jüdische"

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