Tuesday, August 15, 2006

Zuviel für Uschi

Gerhard Henschel
Nachdem Günter Grass seinen jüngsten PR-Coup gelandet und kurz vor Erscheinen seiner Memoiren herausposaunt hat, daß er Mitglied der Waffen-SS war, bedauern manche, er habe seinen Ruf als "moralische Instanz" ruiniert. Die Wahrheit über die "moralische Instanz" deckte Gerhard Henschel bereits in KONKRET 8/1999 auf
Von der Kuba-Krise bis zum Kosovo-Krieg hat Günter Grass nur wenige politische Ereignisse unkommentiert verstreichen lassen. Zu fast allem, was Schlagzeilen machte, liegt ein Meinungsbeitrag von ihm vor: "Spiegel"-Affäre, Große Koalition, Schahbesuch, Machtwechsel, Brandts Kniefall, Guillaumes Enttarnung, Barzels Mißtrauensvotum, Biermanns Ausbürgerung, Schleyer-Entführung, Kontaktsperre, Nachrüstung, Solidarnosc, geistig-moralische Wende, Volkszählung, Waldsterben, Flick-Affäre, Bitburg, Gorbatschow, Kieler Sumpf, Wiedervereinigung, Treuhand, "Asylkompromiß", Golfkrieg, "Superwahljahr 94", Klonschaf, Oderflut und Kfor-Truppen - unabhängig davon, ob man diese Meinungen zufällig teilt oder nicht, ist das doch reichlich viel für einen einzelnen Mann, der diese gewaltige Meinungsfabrikation ja auch nur nebenberuflich betreibt.
Im Lauf der Jahre haben seine Meinungen eigenen Nachrichtenwert gewonnen: Grass kritisiert Studentenführer, Grass gegen Datenschutznovelle, Grass für Rotgrün, Grass dies, Grass das. Seltsamerweise ist er noch nie als Schlichter in Manteltarifverhandlungen aufgetreten oder als Bundespräsident ins Gespräch gebracht worden. Er könnte das. Er kann alles, kennt sich mit allem aus und hat keine Probleme damit, wie Atlas die ganze Welt der Leiden zu schultern, zu allem seinen mittelscharfen Senf zu geben. Daß jedes Buch, das er schreibt, sogleich des langen und breiten besprochen wird, daß jedesmal auch Fernsehteams zur Stelle sind und ihre Kameras auf den bildschön bebrillten, beschnauzten und bepfeiften Autor halten, kommt seinem Geltungsbedürfnis entgegen und kann es doch niemals befriedigen.
In seinem neuen Buch Mein Jahrhundert kommentiert er endlich auch alle gesellschaftspolitischen Ereignisse, über die er noch nicht hinlänglich befragt wurde, aber doch etwas Originelles zu sagen zu haben glaubt. Er äußert sich, in Rollenprosa, über das Fräuleinwunder ("Soviel steht fest: Wie nach der Freßwelle die Reisewelle, so kam mit dem Wirtschaftswunder das deutsche Fräuleinwunder"), die Ölkrise ("Die Ölkrise! Das schlug rein, sag ich Ihnen") und die Love Parade ("dieses erbarmungslose Bum Bum Bum - Tschaka Tschaka Tschaka, kurz Techno genannt"). Er betätigt sich als unbegabter Bauchredner eines Sozifressers, der 1970 über Willy Brandt schimpft ("Dieser Emigrant! Wie der mir gegen den Strich geht ..."), empfindet kläglich unbeholfen Gespräche zwischen Hausfrauen im Treppenhaus nach ("Aber mein Bobbele, der ließ sich nicht verbiegen, konnte richtig frech sein und war manchmal ganz schön vorlaut. Nur daß er keine Steuern hat zahlen wollen und deshalb nach Monaco ausgewandert ist, hat uns beiden nicht gefallen. ›Muß sowas denn sein?‹ hab ich Frau Scholz gefragt") und versagt auch, wenn er als "kleiner Polizist" aus Rostock Volkes Stimme nachahmt ("Jetzt werde ich mit Ihnen mal Klartext reden: Was hier in Lichtenhagen gelaufen ist und später in Mölln und Solingen zum Extremfall wurde, war zwar bedauerlich, kann aber im Prinzip als ganz normaler Vorgang gewertet werden"). Plump und albern sind auch die Worte, die Grass, in entlarvender Absicht, einer gewissen Treuhandchefin in den Mund legt: "Dieser Sozialneid und Haß auf uns Besserverdienende!"
So etwas kann nun seit vierzig Jahren jeder schlechte Kabarettist besser als Günter Grass. Doch er gibt nicht auf. Er versetzt sich in alle Deutschen hinein und radebricht ihnen aus der Seele - Berlinern ("Friede? Da kann ich janz bitter lachen nur. Vonwejen Friede. Immer noch schießen sie rum"), Proleten aus Herne ("Dafür is gezz in Rußland sowatt wiene Revluzzjon am Laufen"), Opel-Arbeitern ("Und uff eimol warn wir all Amerikaner. Eijo, die han uns eifach gekauft"), Trümmerfrauen ("Icke mit Lotte, was meine Tochter is, wir haben in Kolonne jekloppt") und Hausbesetzern ("Na, wie Du ja weißt inzwischen, haben uns Lummers Bullen, kaum war ich zurück, weggeräumt. Ziemlich knüppelmäßig"). Er ist ein miserabler Stimmenimitator und brüstet sich doch immer wieder, in geschraubten Marginalien, mit der eigenen Kunstfertigkeit: "Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabeigewesen." Das ist der erste Satz des Buchs. Wahrscheinlich werden über ihn bald Doktorarbeiten geschrieben. "Ich bin jetzt er", heißt es anderswo. "Er wohnt in Hannover-Langenhagen, ist Grundschullehrer. Er - nun nicht mehr ich - hat es nie leicht gehabt." Knapp achtzehn Zeilen später klingelt es. "Ich, das ist er, mache auf." Und wer steht draußen? Icke? Mit Lotte? Nein, icke ist ein anderer: "Steht da ein Mädchen mit braunem Langhaar, will mich, ihn sprechen ..."
Mich, ihn. Das ist er. Ausgetauscht gegen sich. Nun nicht mehr ich. Denn ich ist jetzt er ... "Mein Gott, ist das beziehungsreich! Ich glaub, ich übergeb mich gleich" (Robert Gernhardt).
Und so stellt sich Günter Grass den Rückblick einer Frau auf das Jahr 1971 vor: "Und doch, wie habe ich mich volldröhnen lassen: ›Hold That Train ...‹ Natürlich Bob Dylan. Aber auch Santana, Deep Purple. Besonders standen wir auf Pink Floyd. Wie uns das angeturnt hat. ›Atomic Heart Mother ...‹ Aber Uschi zog die Gruppe Steppenwolf vor - ›Born To Be Wild ...‹ Da konnte sie sich ganz loslassen." Was Uschi schlecht bekommen sollte. Dramaturgisch, ideologisch und sprachlich bewegt sich die Geschichte, die folgt, auf Herbert-Reinecker-Niveau: Uschi tanzt, Uschi läßt los, Uschi kifft; dann hängt Uschi "plötzlich an der Nadel", wird schwanger, treibt ab ("Nein, man muß wohl davon ausgehen, daß beides, die Nadel, von der sie nicht loskam, und der schreckliche Besuch bei den Engelmachern, das Mädel an den Rand gebracht hat"), geht auf Entzug ("Sie lachte wieder ein bißchen und lebte richtig auf"), wird grausam enttäuscht ("Das war für Uschi zuviel") und stirbt ("Die übliche Überdosis, der Goldene Schuß, wie das heißt").
"Berliner Zeitung": "Sie sind ein weltberühmter Schriftsteller, der auch im Ausland hochgeschätzt wird ..."
Grass: "Und respektiert ist im Ausland."
Warum sagt er das? Weil er sich im Inland nicht respektiert fühlt? Was fehlt ihm noch, nachdem er den Büchner-Preis besitzt, den Fontane-Preis, den Preis der Gruppe 47, den Berliner Kritikerpreis, den Literaturpreis des Kulturkreises der Deutschen Industrie, den Theodor-Heuss-Preis, die Carl-von-Ossietzky-Medaille, ungezählte andere Preise, Medaillen, Lorbeerkränze und Anstecknadeln und dazu, sobald er sich eine neue Meinung gebildet hat, die ungeteilte Aufmerksamkeit jeder Presse-Agentur? Wirft er sich nachts, wie es dem Fischer seine Frau tat, als der Butt sie zum Papst gemacht hatte, schlaflos von einer Seite auf die andere und denkt darüber nach, was er noch alles werden könnte? Möchte er Sonne und Mond aufgehen lassen? Will er werden wie Gott?
"Berliner Zeitung": "Schon jetzt arbeiten Übersetzer an dem Buch ..."
Grass: "Sehr viele sogar. Es gibt etwa dreißig Lizenzverträge."
Wieso nicht dreitausend? Wird Grass jetzt auch im Ausland nicht mehr respektiert? Tatsächlich sollte der hochgeschätzte Schriftsteller mit seiner Exportbilanz hochzufrieden sein. Bücher, die auch "Icke mit Lotte" oder "Meine Uschi" heißen könnten, werden nur selten unter dem Titel "Mein Jahrhundert" in alle Welt verkauft. Doch jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge. Grass: "Ich hätte es mir gewünscht, daß viele andere Schriftsteller in anderen Ländern, in anderen Erdteilen auch diesen Grundgedanken, hundert Jahre in hundert Geschichten zu erzählen, gehabt hätten oder ihn übernehmen würden ... Das gäbe eine wunderbare Bibliothek." Mit Günter Grass als Direktor. In anderen Erdteilen! Soweit kommt das noch.
Er ist kein ernstzunehmender Autor. Er ist nur ein pfeiferauchender Wirtschaftsfaktor.
konkret

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