Thursday, January 26, 2006

Bloß keinen Frieden

Der Krieg in Tschetschenien ist ohne Kidnappingindustrie und profitable Kriegsökonomie nicht denkbar. Von Klaus Thörner

Der Krieg in Tschetschenien wird von beiden Seiten mit einem erschreckenden Ausmaß an Gewalt geführt. Auf mindestens 25 000 gefallene Russen und 200 000 getötete Tschetschenen beläuft sich die bishe­rige Bilanz. Von der eine Million Menschen umfassenden Vorkriegsbevölkerung leben nur noch 650 000 in der Republik. 150 000 Menschen sind geflohen. Die Haupstadt Grosny ist heute ein Trümmerfeld und die seit dem Zweiten Weltkrieg meistbombardierte Stadt der Welt. Die Folgen für die Bevölkerung sind katastrophal. Eine von der Weltgesundheitsorganisation finanzierte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass 86 Prozent der Tschetschenen körperlich oder psychisch krank sind. Und in Russland ging der zweite Tschetschenien-Krieg (seit 1999) mit einer Militarisierung des gesamten Staatsapparates unter Wladimir Putin einher, wie es Olga Kryschtanowskaja in ihrem Buch »Anatomie der russischen Elite« anschaulich nachgewiesen hat.

Im Februar 1944 hatte Josef W. Stalin fast die gesamte tschetschenische Bevölkerung, die sich in großer Zahl gegen die Kollektivierung wehrte, unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den Nazis deportieren lassen. Die Sowjetrepublik Tschetschenien-Inguschetien wurde aufgelöst und unter den Nachbarrepubliken aufgeteilt. Es war die Deportation, die innerhalb der traditionellen Clans den Bezug auf eine tschetsche­nische Nation entstehen ließ.

Erst 1957 erlaubte Nikita Chruschtschow den Tschetschenen die Rückkehr. Doch auch danach blieben sie innerhalb der Sow­jet­ord­nung eine stigmatisierte Randgruppe. Zwar entstand bald eine tschetschenische Mittel­schicht, aber die wichtigen Posten im Staat blieben meist Russen vorbehalten. Viele Tschetschenen gingen als »Gastarbeiter« in andere Teile der Sowjet-union oder traten in Moskau und anderen Großstädten Mafiagruppen bei. Sie schufen damit eines der gefährlichsten und brutalsten Netzwerke des Landes.

Seit dem Beginn der industriellen Förderung wurde in Grosny Rohöl verarbeitet. In der Sowjetunion stand die Stadt an zweiter Stelle der Raffineriekapazität. 1990 lieferte Grosny das gesamte Paraffin, das in der Sow­jet­union erzeugt wurde, und war außer­dem ein Knotenpunkt der sowjetischen Erdölpipelines vom Kaspischen zum Schwarzen Meer. Tschetschenien verfügt auch selbst über Erdölquellen, die die separatistischen Warlords Anfang der neunziger Jahre kontrollieren wollten. Die Anlagen der Ölindustrie wurden während des ersten Tschetsche­nien-Kriegs nicht beschossen, da die russischen Behörden wohl darauf spekulierten, sie nach dem Krieg wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch seit dem Beginn des zweiten Kriegs werden auch sie systematisch bombardiert.


Separatismus

Der im November 1990 einberufene Tschetschenische Volkskongress bildete die organisatorische Ausgangsbasis der aufkommen­den Unabhängigkeitsbestrebungen. Radika­le Moslems, Clanchefs, Afghanistan-Veteranen und kriminelle Gruppen schlossen sich ihm an. Sie waren die ersten, die auf Konfrontation drängten. Die Erosion der Sowjetunion von 1991 spielte den Radikalen in die Hände, das »unabhängige« Tschetschenien von 1991 bis 1994 wurde zu einer Schattenzone außerhalb der direkten Jurisdiktion Moskaus, doch innerhalb seines Wirtschafts­raums.

Zwar produzierte Tschetschenien jetzt weniger als zu Sowjetzeiten, doch entwickelte es sich zum größten Schwarzmarkt der Russischen Föderation. Ein tschetschenischer Geschäftsmann konnte ohne Kontrolle und ohne Zahlung von Steuern oder Zöllen von Grosny nach Moskau und zurück fliegen. Doch als die chaotischste Phase im neuen Russland vorbei war, bekam Tschetschenien wirtschaftlichen Druck zu spüren. Die Öllieferungen in die Raffinerien von Gros­ny wurden eingestellt und internationale Flüge gestrichen. Dennoch setzte die von den Clanfürsten bestimmte Regierung Dscho­char Dudajews nun auf Separatismus. Die Separatismusbewegung hatte erstmal nichts mit Religion zu tun. Dudajew war ein ehemaliger sowjetischer Offizier, der gern Alkohol trank, als Präsident erinnerte er die Tschetschenen nur halbherzig an ihre islamischen Traditionen und gab seinem nicht anerkannten Staat eine weltliche Verfassung.

Nachdem Tschetschenien seine auf der Erdölraffinierung beruhende Wirtschafts­basis Anfang der neunziger Jahre verlor, blie­ben vielen Verarmten außer Tauschhandel und Gelegenheitsarbeiten nur die Kleinkri­mi­nalität und das organisierte Verbrechen als Einkommensquellen. Im Milieu einer sol­chen Zusammenbruchsökonomie hat die Verbindung von Sharia und Kalaschnikow eine aussichtsreiche Zukunft. Intakt gebliebene Clanbeziehungen eröffneten die schnel­le Chance zur Bandenbildung. Das Ausbleiben von Investitionen und der fehlende Zugang zu ausländischen Märkten führten zu einer Arbeitslosenquote von 95 Prozent. Als einzige Boombranche erwies sich das Geschäft mit Geiselnahmen.

Erst im zweiten Tschetschenien-Krieg wur­de der Islamismus zu einem entscheidenden Faktor. Dabei war Tschetschenien nie so religiös wie etwa die Nachbarrepublik Dagestan. Der Islam fasste erst im 19. Jahrhundert im Zuge der Kaukasus-Kriege in Tschetschenien Fuß. Als sie den Islam annahmen, traten die Tschetschenen zwei Sufi-Richtungen bei, die sie an tschetschenische Gebräuche anpassten. Von strikten Formen des Islam waren sie weit entfernt.

Mit dem Krieg von 1994 bis 1996 änderte sich das Bild. Achmed Kadyrow, das dama­lige religiöse Oberhaupt, ermunterte die Tschetschenen, ihre Religion wieder zu entdecken. Zudem zog der Krieg islamistische Veteranen des Afghanistan-Kriegs an, die am Jihad gegen Russland teilnehmen wollten. Die russischen Befehlshaber unterschätzten die militärische Kampfkraft des Gegners. Sie waren nicht darauf vorbereitet, dass sie neben Tschetschenen auf Gotteskrieger aus Jordanien, Afghanistan, Algerien und Ägypten trafen. Der berühmteste war der im April 2002 getötete Jordanier Umar Ibn-al-Chattab. Er stieg schnell zum Stellvertreter des tschetschenischen Kommandeurs Shamil Bassajew auf und spielte als Finanzier eine zentrale Rolle. 1996 nahmen russische Sicherheitskräfte den Ägypter Ayman al-Zawahiri fest, heute der erste Stellvertreter Ussama bin Ladens, und ließen ihn nach sechs Monaten wieder frei.

Ein einheimischer Protagonist des Islamis­mus in Tschetschenien ist Bassajew. Noch 1991 stand er mit Boris Jelzin in Moskau auf den Barrikaden und galt als Wodka trinkender Lebemann. Um Geld und Kämpfer zur Durchsetzung des Separatismus und seiner Mafiaherrschaft zu akquirieren, legte er sich das Image eines Islamisten zu und schloss zur Devisenbeschaffung ein Bündnis mit dem wahhabitischen Islamismus. 1994 trat er mit islamistischen Gruppen und Geld­gebern in Verbindung, absolvierte ein Ausbildungslager in Afghanistan und traf sich mit Bin Laden.

Als im Dezember 1994 der erste Tschetschenien-Krieg begann, führte Bassajew das Kommando der Separatisten. Im Juni 1995 überfiel er mit seiner Miliz die südrussische Stadt Budjonnowsk und nahm in einem Krankenhaus 1 000 Geiseln. Aus dem Krankenhaus führte er Verhandlungen mit Russlands Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin, der die Terroristen abziehen ließ und das Ende des Kriegs sowie Friedensverhandlungen zusagte. Als Bassajews Terrorbanden Grosny besetzten, unterzeichnete die russische Regierung Ende Mai 1996 einen Waffenstillstandsvertrag. Er beinhaltete de facto die Anerkennung der tschetsche­nischen Unabhängigkeit, wobei der Endstatus offen gelassen wurde. Mit dieser fatalen Appeasement-Politik signalisierte die russische Regierung: Terror und Geiselnahmen zahlen sich aus.

Unabhängig wurden in der Phase von 1996 bis 1999 vor allem der Islamismus und die Warlords, die ihre informelle Herrschaft nun ohne Kontrolle oder Repressionen Russ­lands sichern und ausbreiten konnten.

Im Januar 1997 siegte Aslan Maschadow bei den tschetschenischen Präsidentschafts­wahlen. Er war wie Dudajew nicht religiös und galt als moderat. Doch diese Konsensbereitschaft stellte sich für Tschetschenien als großer Fehler heraus. Er suchte nicht die Konfrontation mit den Hardlinern und Wahhabiten, sondern einen Kompromiss. Bassajew wurde zum Vizepremierminister ernannt und gab die Direktive aus, Tschetschenien in ein islamisches Land zu verwan­deln.


Islamisierung

Statt sich um Maschadow zu scharen und mit dem Aufbau des Staats zu beginnen, er­richteten die tschetschenischen Komman­deu­re kriminelle Fürstentümer. Die Wah­ha­bi­ten eröffneten in Gebieten unter Bassajews Kontrolle Trainingsbasen für islamistische Terroristen. Tausende Islamisten wurden hier ausgebildet. 1997 erklärte bin Laden Tsche­tschenien zur Brutstätte des Heiligen Kriegs.

Viele tschetschenische Männer, zumeist jugendliche Arbeitslose mit guter Schulausbildung, aber wegen der wirtschaftlichen Misere ohne Berufsaussichten, schlossen sich den Wahhabiten aus ökonomischen Erwägungen an. Sicherlich sahen viele mit der Verbreitung des Wahhabismus in ihren Familien und Clans auch eine Chance, ihre fraglich gewordene männliche Dominanzposition wieder herzustellen.

Im Januar 1998 schließlich berief Mascha­dow nach islamistischer Dauerkritik an seinem »gemäßigten« Kurs Bassajew zum Regierungschef. Daraufhin erklärte das oberste Sharia-Gericht den »heiligen Krieg« zur Grundlage der tschetschenischen Unabhängigkeit und der nationalen Identität. Als weitere Konzessionen gegenüber den ­finanziell einflussreichen Wahhabiten und um zumindest den äußeren Schein staatlicher Einheit zu wahren, ließ Maschadow die arabische Schrift und später in allen Bezirken das Scharia-Gesetz einführen.

Tschetscheniens drittgrößte Stadt Urus-Martan wurde zum Zentrum der Geiselnehmerindustrie. Aber nicht nur Entführungen machten das Land zu einem Hort der Kriminalität, auch mit dem Verschieben gestohlener Autos, mit Drogen- und Waffenhandel, Öldiebstahl und Finanzmanipulationen ließ sich Geld verdienen. Von Anfang an gelang es der Regierung nicht, den Öldiebstahl und das Anzapfen von Leitungen zu verhindern, vielmehr erreichten diese Praktiken bald katastrophale Ausmaße. 1999 ähnelte der tschetschenische Abschnitt der Erdölpipeline vom Kaspischen zum Schwarzen Meer einem Schweizer Käse.

Dass die Kriminalität anwuchs, lag auch am Ausbleiben der von Moskau versprochenen Wiederaufbaugelder. Dabei war fast die gesamte tschetschenische Industrie zer­stört. In krimineller Hinsicht existierte Tsche­tscheniens Unabhängigkeit nur auf dem Papier. An fast allen Geschäften verdienten Russen mit. So schmuggelten russische Ölfirmen ihr Rohöl nach Tschetschenien, ließen es dort raffinieren und re­importieren, um Steuern zu hinterziehen.

Nichts aber war so einträglich wie das Geschäft mit Geiseln. Im Westen machten nur entführte Ausländer Schlagzeilen, etwa als 1998 zwei englische Telefoningenieure verschwanden. Kurze Zeit später wurden ihre abgetrennten Köpfe an einer Straße gefunden. In Grosny gab es im Stadtzentrum einen »Sklavenmarkt«, wo interessierten Käufern Listen mit Geiseln vorgelegt wurden und Entführerbanden mit Geiseln handelten. Neben tschetschenischen Re­gionalfürsten verdienten auch russische Geheimdienstler und Offiziere an der Kidnappingindustrie. Sie entführten Ausländer oder Russen in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan und verkauften sie ihren Geschäftspartnern in Tschetschenien. Der Kopf eines Ausländers war für mindestens eine Million Dollar gut. 1999, am Vorabend des zweiten Kriegs, schätzten offizielle russische Quellen die Zahl der Geiseln auf ungefähr 2 000.


Zweiter Tschetschenien-Krieg

Beide Seiten konnten mit ihren kriminellen Geschäften in der Friedenszeit eigentlich zufrieden sein, doch versprachen sie sich wohl vom erneuten Krieg noch größere Profite. Die Wahhabiten zielten auf eine islamistisch »befreite Zone« als Nukleus eines islamischen Kalifat-Staates zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Meer. Und auch die russische Regierung hatte ihre Hoffnungen. Der Aufstieg des ehema­ligen Geheimdienstlers Putin zum Präsidenten Russlands ist eng mit der Reaktion der russischen Administration auf den Tschetschenien-Konflikt verknüpft. Putin stand für die Re-Etablierung des starken Staats nach dem Autoritätsverfall Jelzins.

Zwei Ereignisse gaben in dieser Situa­tion die Initialzündung zum zweiten Tschetschenien-Krieg. Im August 1999 besetzte eine Gruppe der tschetschenischen Warlords Bas­sajew und Chattab mehrere Dör­fer in Dagestan, in denen – erstmals in der Geschichte des Nordkaukasus – im August 1998 wahhabitische Führer die Macht übernommen und einen unabhängigen islamischen Staat proklamiert hatten. In Dagestan war daraufhin der Wahhabismus verboten worden. Chattab und Bassajew erhofften sich durch die Besetzung der Dörfer die Vereinigung Dagestans und Tschetscheniens und später des ganzen Nordkaukasus unter dem Banner des Heiligen Krieges.

Kurz danach, im September 1999 wurden in Moskau und Wolgodonsk mehrere Wohnhochhäuser durch Bomben in die Luft gesprengt. 300 Menschen starben. Die Attentate wurden von der russischen Regierung und den Massenmedien sofort »den Tschetschenen« zur Last gelegt, obwohl dafür keine Beweise vorgelegt wurden und es auch keine Bekenntnisschreiben tschetschenischer Terrorgruppen gab. Die Anschlä­ge dienten entscheidend zur Rechtfertigung des Ende 1999 beginnenden zweiten Tsche­tschenien-Kriegs.

Der zweite Krieg führte zu einer extremen Brutalisierung beider Seiten. Die rus­sische Armee begann sofort mit Luftangriffen. Im März 2000 wurde Putin dank des Kriegs zum Präsidenten gewählt. Dokumente der von Putin eingesetzten Verwaltung Tschetscheniens bestätigen, dass allein im Jahr 2002 jeden Monat über 100 Zivilisten von russischen Einheiten entführt und ermordet wurden. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial ging Anfang 2003 von 2 800 Entführten und Verschwundenen im zweiten Tschetschenien-Krieg aus.

Auf russischer Seite wissen vor allem die mit Dreimonatsverträgen dienenden »Kontraktniki« – Veteranen des Afghanistan- oder des ersten Tschetschenien-Kriegs sowie ehe­malige Sträflinge –, dass sie in Tschetschenien ungestraft erpressen, plündern und morden dürfen. An vielen Kontrollpunkten werden Zivilisten ausgeraubt oder ermordet. Oft verhaften die Russen tschetsche­nische Männer, damit ihre Verwandten sie freikaufen – mit Geld oder Maschinenpis­tolen. Selbst die Leichen von Ermordeten müssen freigekauft werden.

Nachts aber beherrschen die Kämpfer der tschetschenischen Warlords und die russischen Todesschwadronen der Geheimdienste und die mit ihnen zusammenarbeitenden tschetschenischen Kommandeure die Städte und Dörfer der Kaukasus-Republik. Die Söldner der Warlords überfallen russische Kontrollpunkte oder jagen russische Autos und Lastwagen in die Luft. Die russischen Einheiten durchkämmen Dörfer und Städte und entführen echte und vermeintliche Rebellen.

Bereits im Juni 2000 bezeichneten russische Armeesprecher den Krieg als gewonnen. Doch das trifft allenfalls für die größeren Städte wie Grosny und Gudermes zu. Im Bergland, dem neuen Kampfgebiet, haben die Warlords und Wahhabiten dagegen taktische und strategische Vorteile. 50 000 bis 60000 Soldaten sind dauerhaft an den Kriegsschauplatz gebunden, ohne aber die in den Bergen verteilten 5 000 bis 6 000 Militanten fassen zu können.

Für die Kriegsherren – seien es tschetschenische Warlords oder russische Sol­daten – sind Geiselnahmen, Waffen- und Rauschgiftschmuggel ein einträgliches Geschäft. Sie sind nicht daran interessiert, dass Tschetschenien und Russland Frieden schlie­ßen. Bei Kriegsende drohen ihre lukrativen Einnahmequellen zu versiegen.

jungle-world.com

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