Friday, January 06, 2006

Drahtzieher im multikulturellen Netz

Kreuzbergs neuester Exportschlager: Gegen Integration, für Segregation

Eberhard Seidel, gestern Rechtsextremismusexperte und taz-Redakteur, heute konjunkturbedingt Islam- und Integrationsexperte des Projektes „Schule ohne Rassismus“, konstatiert: „Wenn es in der Geschichte der Bundesrepublik einen fatalen Laissez-faire-Multikulturalismus gegeben hat, dann unter der christlich-liberalen Ära. 1982 bis 1998 waren die Jahre, in denen sich ethnische Kolonien bildeten (...) man verweigerte den Einwanderern grundlegende Bürgerrechte, eröffnete ihnen kaum neue Wege in den Arbeitsmarkt, (...) ihren Kindern wurde ein Bildungsprogramm vorenthalten, das ihnen zumindest den Hauch einer Chance auf berufliche Integration gegeben hätte.“ (taz, 13.9.05) Der rot-grüne Parteigänger ist davon überzeugt, daß unter Schröder mit dem schwarz-gelben Rassismus aufgeräumt wird: „Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik förderte eine Regierung Organisationen und Bürgerinitiativen, die sich rassistischen, antisemitischen und anderen Formen menschenverachtender Aktivitäten in der Mehrheitsgesellschaft und in den Minderheiten entgegenstellen.“ (Ebenda)

Reichseintopftag im Wrangelkiez

Eberhard Seidel ist Kreuzberger und „Kreuzberg wie sein Ströbele ist eine Geschichte voller Wunder, eine Chronik der Aufmüpfigkeit und Rebellion im Alltag (...), ein urbanes Paradies mit dörflichen Strukturen“, wie der taz-Redakteur Jan Feddersen am 26.09.05 mit feuchten Augen feststellte. Weil fast nirgends die linke Mehrheit stärker ist (über 70% der Kreuzberger wählen SPD, Linkspartei oder Grüne) und deshalb dort die höchste Dichte von Vereinen und Bürgerinitiativen anzutreffen ist, die sich allen möglichen Formen menschenverachtender Aktivitäten in der Mehrheitsgesellschaft entgegenstellen, gibt ein Blick ins interkulturelle Innenleben dieses Bezirks Aufschluß darüber, was nach den Diskussionen über die Ermordung Theo van Goghs und Hatun Sürücüs bundesweit noch seiner Durchsetzung harrt.

Dort, wo man mehrheitlich aus Stuttgart oder Konya stammt und von Berliner Redensarten ungefähr soviel versteht wie die Schultheiß-Werbung preisgibt, lebt man nicht in Wohnvierteln, sondern in Kiez geheißenen Nachbarschaftsbiotopen, zum Beispiel im „Wrangelkiez“. Getragen von einem Internationalen JugendKunst- und Kulturzentrum Schlesische 27 und gefördert aus Mitteln des Bundesprogrammes entimon im Rahmen des Aktionsprogrammes Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus sorgt dort ein „soziokulturelles Netzwerk“ namens Wrangelnetz dafür, daß mit den „Mitteln der Kunst“ ein neues Kapitel in der Chronik der Aufmüpfigkeit und Rebellion im Alltag geschrieben wird, denn: „Interkulturelles Zusammenleben holen wir heraus aus der Problemkiste und katapultieren wir hinein in die phantastische Sammlung ungeahnter Möglichkeiten.“

Im Wrangelkiez richtet Wrangelnetz unter dem Motto „Suppe kennt keine Grenzen“ zusammen mit der Abteilung Jugendförderung des Bezirksamtes und gefördert von der Bundesregierung, dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, dem Quartiersmanagement, dem Projekt Soziale Stadt und vielen anderen seit zwei Jahren eine „féte de la soupe“ aus. Die taz berichtet: „Multi-Kulti-Terrine dampft wieder. Im Wrangelkiez kochen BewohnerInnen gemeinsam ihr Süppchen, bei der 2. féte de la soupe sollen sie sich durch kulinarische Vielfalt näher kommen. Türkische Linsensuppe köchelt friedlich neben bayerischer Rindfleischsuppe. Im Topf gegenüber dampft spanische Gazpacho, dessen Duft sich mit afrikanischer Linsensuppe vermischt. (...) Über das gemeinsame Kochen, Essen und dem Austausch darüber sollen sich im migrantenreichen Problemkiez die verschiedenen Kulturen begegnen.“ (taz 31.8.05) Projektleiterin Heidi Walter erklärt: „Wir wollen die vielen verschiedenen Kulturen in Kreuzberg auch 2005 im wahrsten Sinne an einen Tisch bringen.“ „Die Idee der féte de la soupe setzt neue Akzente: Im Zentrum des Festivals steht das gemeinsame Kochen und Teilen der Suppe. Sie wird zum Sinnbild für das Miteinander und die Lebensfreude über alle Kulturen, Nationalitäten und Altersgrenzen hinweg.“ (www.fete-de-la-soupe.de) Als ein Besucher der lokalen Seniorenfreizeitstätte einen eigens komponierten „Suppensong“ zu Gehör brachte, afro-arabische Klänge ertönten und die Kanak Attak-Aktivistin und Ehrenmuslima DJane Ipek Ipekcoglu Platten auflegte, wollte zwar ein Sinnbild der Lebensfreude nicht so recht erlebbar werden, wohl aber eines des Miteinanders, das man mit Fug und Recht Kiezgemeinschaft nennen kann. Wenn ausgerechnet Suppe als Ausdruck einer „starken Gemeinschaft“, als welche sich die Suppenfreunde im Internet allen Ernstes bezeichnen (ebenda), herhalten muß, ist der Link zu Not und Staatsnotstand schon gelegt. Schließlich geht es bei der féte de la soupe gerade nicht um einen Ausnahmezustand, den man sich um eines höheren Zieles willen vorübergehend verordnet – wie es etwa die internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg taten, weil sie nicht zuletzt dafür kämpften, daß endlich die Fleischtöpfe Spaniens allen Spaniern zugänglich sein würden –, sondern um eine multikulturell inszenierte Feier der Ärmlichkeit und des Verzichts. Es handelt sich mithin um eine Veranstaltung, die gerade weil sie nichts verspricht außer Gleichheit im Zeichen des Mangels, wofür die Hülsenfrucht für arme Leute, die Linse, exemplarisch steht, den Leuten einen Reichseintopftag verordnet, dem diesmal zum Glück nicht der Führer als oberster Suppen-Einschenker vorsteht, sondern interkulturell engagierte und garantiert antifaschistische Lokalgrößen. Daran sollte man nicht herumnörgeln, da ist man aufgerufen, sein Scherflein beizutragen, schließlich kann man dieses Opfer einmal im Jahr schon bringen – wie schon der größte Suppenexperte aller Zeiten wußte: „Dann kommt einer und sagt, wissen Sie, dieser Eintopf, Gott ich würde ganz gerne geben, aber man soll mir doch meine drei oder vier Gänge lassen. – Nein mein Freund, wir wollen in Deutschland mit Absicht einmal im Monat die ganze Nation, wenn möglich, annähernd auf eine einheitliche Ration setzen. Du ahnst gar nicht, wie gesund das für deinen Magen ist. Es kommt dir zugute, sicherlich. Vor allem aber, es kommt auf alle Fälle denen zugute, die vielleicht weitaus nicht das haben, was du dir ja trotzdem an diesem Eintopfsonntag leisten kannst. Das kannst du schon als Opfer bringen.“ (A. Hitler, Führer-Reden zum Winterhilfswerk, Berlin 1937)

Mit Sicherheit kennen Cornelia Reinauer, die PDS-Bezirksbürgermeisterin von Kreuzberg und Schirmherrin des Festes, ebenso wie die Mitglieder der Suppenjury, bestehend u. a. aus den Direktkandidaten für den Bundestag Ahmet Iyidirli (SPD) und Christian Ströbele (Grüne) und dem Integrationsbeauftragten des Senats, Günter Piening, die Analyse des Zentrums für demokratische Kultur (ZdK) über „Demokratiegefährdende Phänomene in Kreuzberg“. Darin heißt es: „Ob im Umkreis vom Kottbusser Tor, entlang dem Kottbusser Damm bis hin zur Boppstraße und dem Hermannplatz, ob Wrangelkiez und das Gebiet um die Reichenberger Straße oder zwischen Marheinekeplatz und Mehringdamm – sowohl in Jugend- und Bildungseinrichtungen, in Schulen oder im öffentlichen Raum lassen sich Anzeichen des von Bassam Tibi beschriebenen Ringens von Islamisten um ,abgeschottete Gemeinschaften‘ erkennen.“ (S. 164) Hauptverantwortliche Redakteurin der Studie ist Claudia Dantschke, die sich laut taz vom 31.08. „über die Grenzen der Republik hinaus einen Namen als Kennerin islamischer Organisationen gemacht“ hat. Der sogenannten Islamexpertin, die zu Protokoll gab, daß sie, nachdem sie 1990 der gewohnten ostzonalen Wärme beraubt worden war, schon bald unter Kreuzbergs Türken neuen Halt und Gemeinschaft gefunden habe (1), geht es keineswegs darum, theokratisch und/oder ethnisch definierten abgeschotteten Gemeinschaften zugunsten einer offenen Gesellschaft den Kampf anzusagen, wie Bassam Tibi es tut, im Gegenteil. Schon die Einleitung der ZdK-Studie, die bezeichnenderweise vom „Projektbereich ,Community coaching’“ herausgegeben wurde, stellt klar, worauf die Chefredakteurin und ihre sieben Mitautoren aus sind: „Eine Politik der Anerkennung des Islam und die Respektierung religiöser Bedürfnisse von Muslimen, wie auch anderer Glaubensgemeinschaften, stehen weiterhin auf der Agenda zu realisierender Forderungen.“ (S. 86) Unter dem Stichwort „Alltagskulturelle Diskriminierung und Ausgrenzung in Kreuzberg“ heißt es: „Vor dem Hintergrund des Vorurteils, islamisch geprägte Kulturen seien genuin frauenfeindlich, erfolgt die Stereotypisierung von Frauen mit entsprechendem bzw. zugeschriebenen Migrationshintergrund als Unterdrückte. Und so gelten Frauen, die aufgrund ihres Migrationshintergrundes dem muslimischen Glauben zugeschrieben werden, ebenso wie muslimische Frauen pauschal als unterdrückt, unterwürfig und ,unemanzipiert’.“ (S. 113) Wer dem Rassismusvorwurf entgehen will, der müsse zur Kenntnis nehmen, daß die „Kopftuchphobie der Westeuropäer“ nur den Blick für den antirassistischen Widerstand verstelle, den die Kopftuchträgerinnen tagtäglich leisteten: „Die Bedeutung des Kopftuchtragens im außereuropäischen Kontext (wie in Afghanistan, Iran oder Saudi-Arabien) ist eine andere, als in Deutschland. So ist das Kopftuch der weiblichen Muslime in Deutschland häufig als Demonstration von bzw. öffentliches Bekenntnis zur Differenz von der säkularen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu verstehen. D.h. eine Differenz in der Auffassung von Weiblichkeit und des Geschlechterverhältnisses und Differenz in der Religionszugehörigkeit im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft.“ (S. 130)

Dantschke und Co. haben mit dem Islam und der islamischen Formierung zum Beispiel im Wrangelkiez weit weniger Probleme, als mit einem zum Feindbild aufgeblasenen Schemen, den sie mal Mehrheitsgesellschaft nennen, mal begrifflich synonym als „Dominanzkultur“ bezeichnen. „Der im Rahmen der Studie verwendete Begriff Dominanzkultur meint das gesellschaftliche Machtverhältnis in Deutschland, in dem zwar Menschen unterschiedlicher Herkunft und/oder religiöser Orientierung leben, das sich jedoch durch die Vorherrschaft und relative Privilegierung weißer, christlich sozialisierter Deutscher auszeichnet.“ (S. 96) Und schon steht die Einheitsfront des antirassistischen Widerstandes, in der auch die Muslima ihren Platz hat, über deren Kultur und Religion man wissen muß: „Die islamisch tradierte Kultur sollte nicht als genuin frauenfeindlich verstanden werden und die Stereotypisierung von Frauen aus diesem Kulturkreis als unterdrückt, unterwürfig und ,unemanzipiert‘ entspricht nur bedingt der Realität.“ (S. 130)

Abkehr vom Integrationsbegriff

Nicht weniger unemanzipiert wie all die freundlichen Frauen, die einem dauernd Tee und Süßigkeiten vorsetzen, wenn man mit türkischen Männern Strategien gegen die Dominanzkultur beratschlagt, erscheinen letztlich auch so sympathische Mit-KreuzbergerInnen wie die Angehörigen der Familie Sürücü. Die haben anscheinend nur eine Art „kampforientierte Selbstbehauptung“ demonstriert, als drei von ihnen ihre Schwester Hatun, von der der islamische Alltagsverstand weiß, daß sie „wie eine Deutsche“ gelebt habe, hinrichteten. O-Ton Dantschke & Co.: „Einstellungen und Aussagen von MigrantInnen in Deutschland, die sich dezidiert gegen die Mehrheitsgesellschaft richten, etwa durch Aussagen wie: ,Ich hasse alle Deutschen.’“, seien so „einzuordnen: Dieser Typ Denkmuster kann als kampforientierte Selbstbehauptung bezeichnet werden; die Kampforientierung ist insofern eine Form der sozialen Selbstbehauptung, als sie Erfahrungen von Minderwertigkeit, Mißachtung und Demütigung nicht nur passiv ertragen hilft, sondern eine Ressource zur aktiven Bewältigung einer inferioren Lebenslage darstellt.“

Antirassistisch aufgeputzte Alibis für Ehrenmörder gibt auch eine andere Drahtzieherin im multikulturellen Netz Kreuzbergs. Es ist Doris Nahawandi, ihres Zeichens „Beauftragte für Integration und Migration des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg“ und selbstverständlich eine glühende Kiez-Patriotin. Kreuzberg als „einer der ärmsten Bezirke Berlins“ besitze „traditionell einen sehr hohen Standard sozial-innovatorischer Praxis. Im Ortsteil Kreuzberg wurden seit den 70er Jahren viele bundesweit richtungsweisende Modelle der Integration von Minderheiten und der Förderung benachteiligter Jugendliche entwickelt“, teilt sie in einem Papier namens „Diversity-Leitlinien für eine neue Kultur der Vielfalt im Einwanderungsbezirk Friedrichshain Kreuzberg“ mit, das sie im Dezember 2004 veröffentlichte. Auf einem von der Heinrich-Böll-Stiftung unter dem Titel „Mythos Kreuzberg“ im Mai 2005 ausgerichteten Kongress stellte sie vor reichlich anwesendem Fachpublikum fest, daß in Kreuzberg tatsächlich „ethnische Kolonien“ existierten, in denen „Schattenwirtschaft und Kleinkriminalität“ sowie „die zunehmende Präsenz von fundamental-religiösen islamischen Organisationen“ längst die soziale Kontrolle über den Lebensalltag ausübten.

Angesichts der Kreuzberger Zustände will Nahawandi jedoch keine bessere Integrationspolitik, im Gegenteil. Neu ist, daß diese Zustände zum Ausgangspunkt einer grundsätzlichen „Abkehr vom Integrationsbegriff“ in der Politik gemacht werden sollen, weil „die Definitionsmacht über den Integrationsbegriff (...) die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft“ inne hätte. Insbesondere die „Debatten (...) nach dem Mord an (...) Theo van Gogh“ hätten deutlich gemacht, daß „eine Alternative zum Integrationsansatz“ unumgänglich sei. Eine solche Alternative hat Nahawandi natürlich in petto: Ausgerechnet die durch mangelnde Intergrationsbemühungen verursachte Segregation in großen Städten soll der Ausgangspunkt für einen „ziviligesellschaftlichen Konsens (...) als gemeinsame Handlungsbasis“ sein. (Diversity-Leitlinien)

Eine moderne Gesellschaft brauche die „ethnische Koloniebildung“ in den Städten sogar. Diese sei auch „nicht per se negativ, weil segregativ“ zu bewerten, „denn aus der Koloniebildung erwachsen (...) Chancen und Vorteile (...) wie die positive Identitätsbildung, das Gefühl von Sicherheit, die Bildung von sozialem Kapital durch Netzwerke, familiär wie auch von Vereinen und Projekten und durch die hohe Konzentration der ethnischen Ökonomie.“ Über Charakter und Entstehungsgründe für die von ihr gepriesene „ethnische Ökonomie“ (ebenda) schweigt sie sich lieber aus. Die repräsentiert nämlich nicht Vural Öger und sein Reisekonzern Ögertours, sondern Hunderttausende namenlose Migranten in ihren zumeist prekären Klitschen, die sich als Imbiß, Gemüseladen, Kiosk, Männercafé oder Änderungsschneiderei als das bescheidene Angebot von prekarisierten aber selbstständigen Migranten an vorwiegend prekarisierte Hartz IV-Bezieher migrantischen Familienhintergrundes wenden. Die Entscheidung für die Selbstständigkeit fiel in aller Regel unfreiwillig, nämlich krisenbedingt. Die sprunghafte Zunahme selbständiger Existenzen unter Migranten setzte in den 90er Jahren ein, als die Arbeitslosigkeit unter ihnen das bis heute konstant hohe Ausmaß erreichte und führt in letzter Zeit zu einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb, dem nur entgeht, wer sich und seine Familie rücksichtslos ausbeutet und darüber hinaus nach anderen Gesetzen als denen des Marktes, auf dem die meisten Betriebe längst gescheitert wären, sich eine Stammkundschaft sichert. Diese ethnische Ökonomie, die nur funktioniert, weil dort weit unterhalb aller üblichen Arbeitsbedingungen der Mehrheitsgesellschaft gearbeitet wird, als Standortvorteil im Kiez zu feiern, zeugt von der skrupellosen Bereitschaft, selbst die minimalen arbeitsrechtlichen Standards preiszugeben.

Toleranz und Vielfalt

Ziel dieser Alternative zur Integration ist somit gerade nicht, Migranten auf dem regulären Arbeitsmarkt unterzubringen oder sie doch zumindest so zu stellen, daß sie wenigstens die gleichen Ausgangsbedingungen wie ihre deutschen Konkurrenten haben. Priorität hat die Unterstützung jener „ethnischen Ökonomie“, in der Migranten unterkommen sollen, egal welchen Preis die zu Angehörigen „ethnischer Minderheiten“ Zurechtdefinierten zu zahlen haben. Welche Perfidie darin zum Ausdruck kommt, wird erst dann richtig deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Ideologen wie Nahawandi als bekennende Linke zugleich Sozialraub, Neoliberalismus und sogenannte Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse beklagen, wenn sich die Kritik gegen Entwicklungen in der Mehrheitsgesellschaft wendet. Gegen Migranten dagegen, die ja sowieso kulturell und ethnisch anders seien, kann man im Zeichen von Toleranz und Respekt eine „soziale Politik“ propagieren und teilweise auch durchsetzen, die angeblich „den diversen Anforderungen, die das Zusammenleben von Menschen aus über 160 verschiedenen Herkunftsländern (...) mit sich bringt, gerecht“ werde (ebenda), in Wahrheit jedoch ein Programm zur Beförderung massenhafter Verarmung und ethnischer Kollektivierung ist.

Die übergeordnete Idee eines solchen Programmes nennt sich in Fachkreisen Managing Diversity. Nahawandi: „Managing Diversity bedeutet in erster Linie zu akzeptieren, daß alle Menschen unterschiedlich und vielfältig sind. Dabei geht es aber nicht darum, neue ,Gruppenkategorien‘ zu etablieren, sondern sich bewußt zu machen, daß jeder Mensch ein Selbstdefinitionsrecht besitzt, sich also selbst einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlen kann.“ (Ebenda) Unter „Vielfalt“ versteht Nahawandi in strikter Zurückweisung der Zumutungen einer angeblich autoritären Mehrheitsgesellschaft die Auslieferung der Individuen an ihr je „eigenes“ Minderheitenkollektiv. Sieger im Kampf um Vielfalt werden so automatisch die brutalsten Verfechter der ethnischen und/oder religiösen Einheit, die sich zwar noch nie anderen Gesetzen als denen der Rasse oder der Religion verpflichtet sahen, sich nunmehr aber ausdrücklich ermuntert fühlen dürfen, ihren Rassen-, Geschlechts- und Religionskrieg als Selbstdefintionsrecht gegen die verbliebenen Einzelnen zu führen, die immer noch nicht in ihrer „bestimmten Gruppe“ angekommen sind.

Als hätte selbst Doris Nahawandi geahnt, wem allein sie mit ihren Konzepten entgegenkommt, schlägt auch sie einen Haken und präsentiert einen Katalog von Essentials, die nicht dem eisernen Zugriff islamischer Toleranz ausgeliefert werden dürften: „(Managing Diversity) bedeutet nicht, daß eine Förderung der Vielfalt gleichbedeutend mit uneingeschränkter Toleranz ist! (...) Grundwerte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf freie Berufswahl und freie Partnerwahl sind nicht verhandelbar bzw. interpretierbar.“ Nur wenige Zeilen später, wenn sie auf das Verhältnis von „Vielfalt“ und „Diskriminierung“ zu sprechen kommt, erklärt Nahawandi: „Die Verknüpfung beider Aspekte ist richtig und notwendig, denn Menschen werden häufig aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, Religion, sexuellen Orientierung, einer Behinderung, ihres Alters und ihres Geschlechts diskriminiert und sind darüber hinaus, wenn sie mehr als eines der genannten Merkmale aufweisen (z.B. lesbische Migrantin) nicht selten Opfer von Mehrfachdiskriminierung.“ Wie man die Diskriminierung von Menschengruppen wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Geschlechts bekämpfen kann, ohne gleichzeitig den frommen Moslem von nebenan wegen seiner Religion zu diskriminieren, kann und soll aus solchen Antidiskriminierungskatalogen gar nicht hervorgehen. Doch beinahe hätte sogar Nahawandi etwas zur Lösung der Dialektik von Einheit und Vielfalt beigetragen: „Vielfalt (kann) erst dann wirklich gefördert werden, wenn gleichzeitig Diskriminierung verhindert bzw. bekämpft wird.“ (Ebenda) Hätte sie „vorher“ statt „gleichzeitig“ gesagt, wäre sie erstmalig auf Seiten der Wahrheit gestanden. Dann hätte sie erkennen können, daß nur eine Mehrheitsgesellschaft, die sich den Werten ethnisch oder religiös definierter Parallelgesellschaften konsequent verweigert, in der Lage wäre, zu definieren, was Diskriminierung ist und warum sie nicht verhandelbar ist. Und ganz am Rande wäre ersichtlich geworden, daß Diskriminierung einen Namen hat: Islam.

Aber Doris Nahawandi und ihre Chefin Cornelia Reinauer lassen keinen Zweifel daran aufkommen, wo der Feind steht und wer weiterhin mit aller Toleranz rechnen darf. In einem von beiden verfaßten Papier mit dem Titel „Thesen zur Entwicklung eines interkulturellen Konzeptes“ heißt es: „Die Zementierung der Mehrheitskultur gegenüber einer Minderheitenkultur ist nicht nur unzeitgemäß, weil latent rassistisch, sondern vor allem auch kontraproduktiv. (...) Besonders gefördert werden sollten die Grenzüberschreitungen, die Kooperationen und die Anstrengungen zur Aneignung des jeweils ,anderen‘. Das setzt aber voraus, daß das jeweils Andere erst einmal angeboten und überhaupt wahrgenommen werden kann.“ Solcher Logik zufolge muß sich eine lesbische deutsche Kreuzbergerin aneignen, was die Vorsitzende der Frauengruppe von Milli Görüs über Homosexualität denkt und die Gemeindemitglieder der Synagoge am Fraenkelufer müssten sich anstrengen, ausgerechnet die mentale Grenze zu den antisemitischen Vernichtungsphantasien von Mitgliedern der örtlichen Hamas-Tarnorganisation zu überschreiten, weil es in deren Hirnen zugegebenermaßen „anders“ zugeht. Die schrankenlose Durchsetzung von Vielfalt hilft jedenfalls dabei, die unterschiedlichsten Tabus aufzubrechen. „Die Thematisierung und Anerkennung von Vielfalt (...) könnte (...) dazu beitragen, daß Tabuthemen wie schwule und lesbische Migrant/innen ebenso enttabuisiert werden wie z.B. Diskussionen um existierende konservative, strenggläubige Lebensweisen und Einstellungen“. (Diversity-Leitlinien) Daß Mehmet oder Fatma homosexuell sein könnten, ist in Kreisen der Mehrheitsgesellschaft weder anrüchig, geschweige denn ein Tabu, und konservative bzw. strenggläubige Ressentiments gegen Homosexualität sind dort auch nicht Gegenstand der Diskussion, sondern der Kritik, auch dann, wenn der Kritisierte als Papst tätig ist. Man kann alle Migrantinnen und Migranten, die aus islamischen Familien stammen, vor einem Outing zu den interkulturellen Konditionen einer Nahawandi nur warnen. Denn wenn es nach ihr und ihresgleichen ginge, wäre der Preis, den sie für ihr Outing zu zahlen hätten, nicht der Schutz vor, sondern die lebensgefährliche und lebenslängliche „Auseinandersetzung“ mit den Repräsentanten „ihrer“ Kultur, von denen man weiß, daß sie Schwule entweder steinigen oder ihnen wenigstens den bösen Trieb wegoperieren wollen.

Mädchenarbeit im islamischen Quartier

Clearingstelle für Auseinandersetzungen mit dem Anderen im Stadtteil ist das Quartiers- oder Kiezmanagement, eine Institution, die in dem Maße an Bedeutung gewinnt, wie der Staat stadtteilbezogene Ordnungs- und Sozialpolitik aus Kostengründen einschränkt oder ganz aufgibt. Wenn in Deutschland übergeordnetes, gesellschaftliches Interesse nicht mehr durchgesetzt wird, zerfällt Gesellschaft notwendig in solche kollektiven Bestandteile, die sich als gemeinschaftsfähiger und vor allem als autoritärer erweisen als die Bürger einer säkularen Republik, die jeden Zuwachs an persönlicher Freiheit immer auch als einen Verlust echten sozialen Zusammenhalts beklagt haben. Das Kiez- oder Quartiersmanagement kann und soll die Lücke, die der auf dem Rückzug befindliche Staat hinterläßt, nicht füllen. Seine Aufgabe besteht lediglich darin, ideologisch zu verklären und in der Gemeinwesenarbeit auch durchzusetzen, daß an die Stelle der Allgemeinheit die Herrschaft des Partikularen tritt, also die Führer der im Wege der gewünschten und geförderten ethnischen, religiösen und kulturellen Segregation entstandenen Banden und Cliquen als ehrenwerte Partner in ein Dialog- und Vertrauensverhältnis einbezogen werden: „Insbesondere die Beteiligung von Verteter/innen der Migrantencommunities und -projekte, die eine wichtige Brückenfunktion durch ihren Zugang zu den einzelnen Zielgruppen und somit für eine gelungene Stadtteilarbeit haben, ist in der Vergangenheit zu wenig praktiziert worden. Auch hier müssen wir neue Wege und Kooperationsformen entwickeln. (...) Ziel muß es sein, Kooperationsformen und Kommunikationsformen zu finden, die ‚beiden Seiten‘ gerecht werden, die dazu beitragen, dass das Verständnis füreinander gefördert wird (...). Dafür muss zunächst ein offener Dialog in Gang gesetzt werden, der die Basis für den Aufbau eines beidesseitigen Vertrauensverhältnisses schafft.“ (Diversity-Leitlinien)

Daß Dialog und Vertrauen im Kiez in Wirklichkeit überhaupt nicht funktionieren, weil die Vertreter/innen der islamischen Migrantencommunities nicht als Brücke, sondern als Prellbock gegen westliche Zumutungen auftreten, kann man der schon erwähnten ZdK-Broschüre entnehmen. Ein Mitarbeiter eines anonymisierten Kreuzberger Mädchenprojektes äußert sich darin zum Beispiel folgendermaßen: „Die Mädchengruppe wurde damals auch für das spezielle Klientel der Mädchen aus dem islamischen Kulturkreis gegründet (...). Ihre Rollenzuschreibung ist viel stärker. Ein Mädchen hat das Haus, die Wohnung nicht zu verlassen, hat die Rolle der Behüterin familiärer Werte im Heim, die Rolle der Bediensteten zu Hause, d.h. wenn der Vater, die älteren Brüder da sind, ist sie diejenige die kocht, sie bedient zu Hause. Berufliche Chancen gibt es wenig bis gar nicht.“ (S. 190) Man könnte meinen, daß wer so realistisch berichtet, an Strategien arbeitet, die geeignet sind, solche Zustände abzustellen. Doch der Kreuzberger Sozialarbeiter zieht aus dem von ihm beschriebenen Verhältnissen, aus denen sein Klientel stammt, andere Schlüsse: „Es geht nicht darum, zu sagen: Du mußt jetzt deine Freiheit ergreifen! Das kann nicht der Sinn sein, sondern Möglichkeiten aufzeigen, und helfen, sie wahrzunehmen. Es kann nicht darum gehen, sie in innere Konflikte zu stürzen.“ (Ebenda) Den Autoren der ZdK-Studie ist dieses Eingeständnis der fast vollständigen Ohnmacht bezirklicher Jugendprojekte gegenüber der islamischen Differenzkultur keineswegs Anlaß kritischer Selbstreflektion. Sie deuten eine Kapitulationserklärung gegenüber faschistischem Massenbewußtsein in eine sozialpolitischen Erfolg um: „Über die Jahre errang diese soziale Einrichtung auch das Vertrauen stark religiös geprägter muslimischer Familien. Entscheidend dazu beigetragen hat die behutsame Auseinandersetzung mit den spezifischen Lebensumständen der Mädchen, die weder betont noch ignoriert werden, und das Wissen der MitarbeiterInnen um Zusammenhänge und Hintergründe.“ (Ebenda) Wo man das Vertrauen stark religiös geprägter moslemischer Familien deshalb genießt, weil man das erbärmliche Los der kleinen Mädchen angeblich nicht ignoriert, in Wirklichkeit aber gar nicht erst betont, da muß etwas grundsätzlich schief laufen. Die MitarbeiterInnen des Mädchenprojekts müssen schon mit „Erfolgen“ wie diesem zufrieden sein: „Wir haben einige Mädchen gehabt, die, sobald sie etwas älter waren, von 7–8, angefangen haben Kopftuch zu tragen, öfter in die Moschee zu gehen, aber auch sie durften dann in die Mädchengruppe, weil das Vertrauen erst einmal da war, und weil vom Verständnis der Eltern her es ja ihrem Interesse entgegenkommt, wenn es eine reine Mädchengruppe ist.“ (Ebenda)

Es geht nicht darum, den betreffenden Sozialarbeitern groß am Zeug zu flicken. Es wäre ihnen gar nicht möglich, zu verwirklichen, was grundsätzlich einzufordern wäre, nämlich klare, unhintergehbare Grenzen aufzuzeigen, und sich aktiv der Zurichtung von 7- bis 8jährigen Mädchen zu reinen Sexualobjekten, die züchtig ihr Haupt zu bedecken hätten, wenn sie nicht als Huren und somit Freiwild gelten wollen, kompromißlos entgegenzustellen. Jeder erfolgreiche Versuch, einige dieser Mädchen in innere Konflikte zu stürzen, wäre folgenlos, weil Kinder ihre Konflikte vor den Eltern nicht verbergen können und moslemische Eltern bei den ersten Anzeichen von Zweifel ihre Töchter für immer aus dem Projekt abziehen und darüber hinaus dafür sorgen würden, daß kein einziges Kopftuchmädchen je wieder ins Mädchenprojekt gehen dürfte. Andererseits droht das sicherlich unfreiwillige aber objektive Bündnis mit den islamischen Tugendwächtern den Sinn der Mädchenarbeit auf den Kopf zu stellen und die Sozialarbeiter zu Kollaborateuren der islamischen Moral zu machen.

Die dringende Diskussion darüber, wie eine westlich orientierte und ausdrücklich nichtreligiöse Mädchenarbeit zu organisieren wäre, die von islamischen Eltern gar nicht boykottiert werden dürfte,ist nicht mit, sondern ausdrücklich gegen Kiezmanager, Integrationsbeauftragte und Islamexperten zu führen: gegen jene Entscheidungsträger, die wie Reinauer und Nahawandi, flankiert von den Dantschkes und Seidels, die Morde an Theo van Gogh und Hatun Sürücü skrupellos dazu nutzen, einen neuen Kreuzberger Exportschlager gegen jede Integration in Stellung zu bringen. Dort, wo mit Studien und Dienstanweisungen Sozialarbeiter ermuntert werden, im Namen von Toleranz lieber das Vertrauen moslemischer Eltern zu gewinnen als das der Töchter; wo kulturelle Identität im Rahmen von Diversity Management in zunehmenden Maße zum wirtschaftlichen Faktor erklärt und damit der Zwangsmoral noch weiter Tür und Tor geöffnet wird; wo man Segregation als Alternative zur Integration propagiert, da hat nicht nur der Kampf gegen Dominanzkultur und Mehrheitsgesellschaft Priorität, da geraten auch jene notwendig ins Visier, die sich wie Hatun Sürücü den interkulturellen Zumutungen individuell entziehen wollen, sich aber schon deswegen der Assimilation verdächtig machen.

Claudia Dreier/Sören Pünjer (Bahamas 48/2005)



Anmerkung:

1) Gegenüber der taz erläuterte die autochthone Zona ihren ganz persönlichen Gefühlsstau nach der Wiedervereinigung: „Richtig integriert worden bin ich aber über die Türken. Da habe ich diese Gemeinschaft, diese vermeintliche Gemeinschaft der DDR-Gesellschaft, wieder gefunden. Da habe ich mich geborgen und aufgehoben gefühlt.“ (26.09.05)

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