Die Süddeutsche Zeitung behauptet in einem „Erklärvideo“, Deutschland profitiere finanziell und demografisch vom Zuzug der Flüchtlinge. Mit der manipulativen Darstellung schadet das Blatt dem Journalismus in Deutschland. Ein Kommentar von Moritz Breckner
Der zweiminütige Trickfilm mit dem Titel „Darum muss Deutschland keine Angst vor Flüchtlingen haben“ ist am Mittwoch auf der Webseite der Süddeutschen Zeitung erschienen. Um die Schlagzeile zu rechtfertigen, nennen die Journalisten drei Argumente. Es lohnt sich, diese Punkt für Punkt durchzugehen, denn hier werden Fakten mit einer wahrlich verblüffenden Dreistigkeit zurechtgebogen, um die derzeitige Flüchtlingspolitik als wirtschaftlichen und finanziellen Erfolg für Deutschland zu verkaufen.1. Es gibt keinen Flüchtlingsstrom
Die Begriffe „Flüchtlingsstrom“ oder
„Flüchtlingswelle“ sei nicht richtig, wie Zahlen zeigen sollen.
„Europaweit ist Deutschland, was die Asylanträge angeht, zwar
Spitzenreiter“, heißt es aus dem Off. „Wenn man aber die tatsächlichen
Flüchtlingszahlen im Verhältnis zu Bevölkerungsgröße betrachtet, sieht
es ganz anders aus.“ Das unterstützen die SZ-Autoren mit einem
Balkendiagramm: „Auf 1.000 Einwohner kommen im Moment in Deutschland
drei Asylbewerber. In Ungarn sind es mehr als doppelt so viele, in
Schweden fast dreimal so viele. Von Ländern wie der Türkei oder dem
Libanon mal ganz zu schweigen.“ Mit Begriffen wie „Flüchtlingswelle“
müsse man daher vorsichtig sein, erläutert der Sprecher.
Warum der Film drei Asylbewerber pro 1.000 Einwohner
vorrechnet, ist nicht ersichtlich. Geht man von 81 Millionen Einwohnern
Deutschlands und der von Sigmar Gabriel errechneten
Asylbewerberzahl von einer Million im Jahr 2015 aus, hätte Deutschland
Ende des Jahres 12,3 Asylbewerber pro 1.000 Einwohner. Dass viele dieser
Asylbewerber ihre Familien nachholen wollen, ist dabei noch nicht
berücksichtigt. Und wie gesagt: Wir sprechen allein über das Jahr 2015.Die Suggestion, alles sei ganz easy, geht sowieso völlig an der täglich in Deutschland erlebten Realität vorbei. Seit Tagen kursiert im Internet das Video einer SPD-Kommunalkonferenz, bei der die Münchner Sozialreferentin Brigitte Meier mit tränenerstickter Stimme bekennt, wie überfordert ihre Stadt mit dem ist, was die SZ-Journalisten nicht „Flüchtlingsstrom“ nennen mögen. Stell dich nicht so an, könnte man der Dame sagen, im Libanon ist es ja noch schlimmer. München hilft das nicht.
Das Westfalen-Blatt berichtet am Freitag von einer Realschule, deren Leiterin am Dienstagabend erfahren hat, dass die Schule ab Donnerstag als Flüchtlingsunterkunft genutzt wird. Die Schüler hatten am Mittwoch 15 Minuten Zeit, um ihre Habseligkeiten aus den Räumen einzupacken und sich für den Umzug in eine andere Schule vorzubereiten. Es sei eine regelrechte Flucht gewesen, die Kinder traurig und geschockt. In den neuen Räumen war der Unterricht bisher nur eingeschränkt möglich. Es sind Begebenheiten wie diese, die sich täglich in Deutschland abspielen, und die überhaupt nicht dadurch zu relativieren sind, dass im kleinen Libanon mehr Flüchtlinge pro Einwohner leben als in Deutschland.
2. Flüchtlinge zahlen mehr an den Staat, als sie bekommen
Kann man von einer „Kostenschwemme“
sprechen, fragt die Stimme in dem Video. Für die Flüchtlinge werden
immerhin 10 Milliarden Euro in diesem Jahr ausgegeben. „Das sind aber
gerade mal nur etwas mehr als drei Prozent des gesamten
Bundeshaushalts“, erklärt der Journalist. „Außerdem arbeiten Flüchtlinge
die Kosten oft rasch wieder rein. Jeder Zuwanderer zahlt im Schnitt
3.300 Euro mehr an Steuern und Sozialabgaben ein, als für ihn ausgegeben
werden.“
Geschenkt, dass für die Redakteure der Süddeutschen Zeitung
„gerade mal nur“ zehn Milliarden Euro Steuergeld nicht so wichtig zu
sein scheinen. Hat nicht Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD)
noch vor zwei Wochen im Bundestag davon gesprochen, dass nicht einmal
jeder zehnte Asylbewerber die Voraussetzungen mitbringe, um direkt in
Arbeit oder Ausbildung vermittelt zu werden? In den meisten Fällen
brauche es eine „ergänzende Qualifizierung“, in vielen Fällen aber auch
erst eine „grundständige Ausbildung“. Es liegt somit auf der Hand, dass
in mindestens neun von zehn Asylbewerber so viel investiert werden muss,
dass es auch bei erfolgreichen Ausbildungsmaßnahmen wie eine ferne
Zukunftsmusik erscheint, dass hier die Rechnung tatsächlich zu Gunsten
des Sozialsystems aufgeht. Warum unterscheiden die Macher des Videos
nicht zwischen Zuwanderern, Asylbewerbern und Flüchtlingen? Warum
verschweigen sie, dass etwa das bei Asylanträgen sehr großzügige
Schweden einen hohen Preis für seine Flüchtlingspolitik bezahlt?Die 3.300 Euro übrigens stammen aus einer Untersuchung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Verschwiegen wird in dem Video, was die Studie noch alles zu Tage gefördert hat. „Düster sieht die Kalkulation für Ausländer aus, die 2012 hier geboren wurden. Unter Status-quo-Bedingungen würden sie über den gesamten Lebenszyklus hinweg durchschnittlich gut 44.000 Euro mehr an Transfers erhalten, als sie an Steuern und Sozialbeiträgen zahlen“, fasst die Tageszeitung Die Welt zusammen. „Im Gegensatz dazu zahlen die im gleichen Jahr geborenen Deutschen fast 112.000 Euro mehr ein, als sie von Vater Staat erhalten.“ Ausländer seien deutlich häufiger ohne Job als Deutsche und verdienten wegen des meist geringeren Bildungsniveaus auch weniger.
Ganz andere Zahlen hat sowieso der Ökonom Hans-Werner Sinn ermittelt. Pro Migrant ergibt sich für ihn eine „fiskalische Nettobilanz je Migrant von minus 1.800 Euro im Jahr“. Damit koste ein Migrant im Durchschnitt mehr, als er einbringe. Das darf natürlich nicht bedeuten, Flüchtlinge nur nach ihrem ökonomischen Nutzen zu bewerten. Warum aber verschleiert die Süddeutsche Zeitung derart die Faktenlage und sendet eine ganz gezielte Botschaft, die inhaltlich kaum zu halten ist?
3. Flüchtlinge als Lösung des Demografieproblems?
Der kleine Film der Süddeutschen
Zeitung kommt langsam zum Ende und erklärt: „Deutschland wird immer
älter und ist auf Zuwanderung und neue Arbeitskräfte angewiesen. Warum
sollte Deutschland also Flüchtlinge aufnehmen? Weil es den Platz, die
Ressourcen und die Möglichkeiten hat, und, weil Deutschland davon
profitiert. Oder, schlicht und ergreifend: Einfach aus Menschlichkeit.“
Hier stimmt die Tatsache, dass Deutschland immer älter wird und
deswegen auf Zuwanderung und neue Arbeitskräfte angewiesen ist. Dieses
demografische Problem beschäftigt die Bundesrepublik schon lange. Die
Platzierung dieser Tatsache am Filmende ohne weitere Erklärung
suggeriert, dass die Aufnahme von Flüchtlingen das Demografieproblem
lindert. Offenbar haben die Macher des Films ihre eigene Zeitung nicht
gelesen. „Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat davor gewarnt, im
Zuzug von Flüchtlingen die Lösung für die rasche Alterung und das
langfristige Schrumpfen der deutschen Bevölkerung zu sehen“, war dort nämlich am Dienstag zu lesen.
„Asylrecht und Asylverfahren sind nicht die richtigen Instrumente für
die Lösung der demografischen Herausforderungen“, sagte der
CDU-Politiker und erklärte, unter den Flüchtlingen gebe es mitnichten so
viele Qualifizierte, wie Deutschland hoffe. Warum belegen die SZ-Redakteure ihre Behauptungen nicht mit Fakten, beispielsweise dem durchschnittlichen Bildungsgrad von Flüchtlingen? Wäre es nicht fair, wenigstens anzudeuten, dass es auch andere Einschätzungen der Lage gibt? Die Zeitung erklärt dazu auf Anfrage: „Im Video heißt es mitnichten, dass Asylbewerber das Demografieproblem lösten, sondern dass Deutschland Zuwanderung brauche – dies steht nicht in Widerspruch zu den Aussagen des Innenministers, ganz im Gegenteil.“ Zuwanderung ja – aber geregelte Zuwanderung ist etwas anderes als die derzeitige Aufnahme von Flüchtlingen.
Nun, so kann man sich die Dinge zurechtlegen.
Auf die genaue Faktenlage kommt es in einem Film vermutlich nicht an, der nicht wie ein journalistisches Informationsstück, sondern wie die Werbekampagne von „Pro Asyl“ daherkommt. Mehr als 3.000 Leser haben das Video über die Facebook-Seite der Süddeutschen geteilt. Die Kommentare sind aber alles andere als zustimmend und beschweren sich konkret und meist ohne Hetze oder Beleidigungen über die unjournalistische Darstellung des Themas. „Solch an den Haaren herbeigezogene Argumente, die nicht zwischen Zuwanderern generell und Flüchtlingen speziell unterscheiden, helfen letztendlich nur jenen, die offen gegen die Asyl-Politik und auch gegen etablierte Medien Hetze betreiben“, schreibt ein Nutzer.
Ganz am Ende nennt der Film die Menschlichkeit als Argument, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Menschlichkeit ist ein starkes Argument, das auch dann gültig wäre, wenn das Video die unbequemen Realitäten ansprechen anstatt verschleiern würde. Gerade für die vielen Christen und Kirchengemeinden, die den Asylbewerbern helfen, geht es nicht darum, ob oder wann die Asylbewerber Geld in die Sozialsysteme einzahlen, sondern um Menschlichkeit und Nächstenliebe. Eine verzerrte Darstellung der Lage, wie die Süddeutsche Zeitung sie hier betreibt, weckt sicherlich keine Nächstenliebe bei denen, die von der derzeitigen Asylpolitik nicht überzeugt sind. Sie bestätigt nur das Misstrauen, das in Teilen der Gesellschaft bereits gegenüber Journalisten herrscht.
pro-medienmagazin
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