Tuesday, August 12, 2014

Schweizer Muslim auf syrischen Abwegen

Eigentlich ist der achtzehnjährige Aargauer mit den asiatischen Gesichtszügen gewarnt gewesen. Am türkischen Grenzposten stempelt ihm der Beamte das Wort «Iptal», also «Annulliert», in seinen Kinderpass. Obwohl der Ausweis seit mehr als einem Monat abgelaufen ist, lässt der Uniformierte den Schweizer ziehen – hinüber ins Bürgerkriegsland ­Syrien. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Dabei macht die Terrortruppe des Islamischen Staats im Irak und in Grosssyrien (Isis) weite Teile der Grenz­regionen zur Türkei unsicher. Ankara hat deshalb die Grenzkontrollen verstärkt – offiziell. Eigentlich sollten die türkischen Zöllner deshalb verhindern, dass potenzielle Dschihadisten die Grenze überqueren und sich dem Isis oder al-Qaida anschliessen. Was der aargauische Muslim mit der Metallbrille und dem schwarzen Bart in Syrien wirklich will, weiss ausser ihm niemand so recht. Warum also lässt man ihn gehen? Die unglaubliche Reise des blutjungen Schweizers ist auch eine Geschichte behördlichen Versagens – und zwar nicht nur von türkischer ­Seite. Alle reden davon, Dschihadisten von der Reise nach Syrien abzuhalten. Die Geheimdienste der halben Welt stehen in Alarmbereitschaft wegen jener potenziellen Terroristen, die aus dem syrischen Kriegs­gebiet in ihre Heimatländer zurückkehren könnten – auch in die Schweiz. Man spricht von der grössten terroristischen Gefahr seit dem 11. September 2001. Trotzdem schafft es ein Achtzehnjähriger, ohne Geld und mit einem abgelaufenen Kinderpass über Deutschland, Österreich, den Balkan und die Türkei nach Syrien zu reisen. Dass es Harry B. unter diesen Umständen bis ins syrische Grenzgebiet schafft, stellt den Schlapphüten und Polizeikräften kein gutes Zeugnis aus – ganz unabhängig von seinem Reisemotiv. Vielleicht ist er bloss ein harm­loser, wenn auch ziemlich naiver Träumer. Nach seinen eigenen Worten befindet er sich auf einer muslimischen Pilgerreise. Vielleicht mimt er den Naivling aber auch nur. Für einen Ortsunkundigen ist die Provinz Aleppo im Norden von Syrien ein Minenfeld. Nach dem Verlassen des türkischen Territo­riums muss Harry B. das Niemandsland bis zum Grenzposten der syrischen Rebellen mit der Unabhängigkeitsflagge und dem Emblem der Islamischen Front, einer Allianz von Aufständischen gegen Präsident Assad, zu Fuss überqueren. Hinter dem Zaun zu beiden Seiten der Strasse warnen Schilder vor Personenminen. Im Umkreis von etwa dreissig Kilo­metern gibt es vier verfeindete Kampfgruppen: die Kurden, die Isla­mische Front, die Regierungstruppen und den Isis. Es ist der 14. Juni. ­Irgendwie gelingt es ­Harry B., die blau uniformierten Zöllner der Islamischen Front zu überlisten und per Anhalter weiterzufahren. Seiner Mutter, einer aus Südostasien stammenden Englischlehrerin und Muslimin, schickt er mit dem iPhone noch eine letzte Nachricht. «Ich bin jetzt in Syrien.» Danach bricht der Kontakt ab. Schon bald befürchtet die Mutter, dass der verlorene Sohn den Tod gefunden haben könnte. Der aus dem Kanton Bern stammende Vater ist zum Islam übergetreten.
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