von Gerrit Liskow
In einer Entwicklung, die alle überraschen wird, die in letzten Tagen
den „offiziellen“ Wahlumfragen geglaubt haben, hat David Cameron, der
Premierminister, offensichtlich sein wichtigstes Wahlziel erreicht: Er
bleibt Premierminister des Vereinigten Königreichs und es ist seiner
Partei gelungen, ihr Wahlergebnis wesentlich zu verbessern. Während in
Turnhallen im ganzen Land noch die Stimmen ausgezählt werden, gilt es
inzwischen als wahrscheinlich, dass die Tories eine absolute Mehrheit im
Unterhaus errungen haben.
Zuvor hatten die Wahlumfragen aller nennenswerten Institute ein
knappes Kopf-an-Kopf-Rennen vorhergesagt, das sich nun, wie schon die
Bibi-Wahl im März des Jahres in Israel, als nicht viel mehr als Schall
und Rauch herausgestellt hat.
Wenn diese Überraschung nicht von vornherein so geplant war (und das ist auszuschließen, denn alle Umfragen
stimmten nicht und selbst die, die es normalerweise am besten wissen,
nämlich die Buchmacher, lagen daneben), wären jetzt einige
offensichtliche Fragen an die Institute zu stellen; zum Beispiel was die
Qualität ihrer Zahlen betrifft - und vielleicht auch ihre Versuche, das
Wahlergebnis im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prognose zu
beeinflussen?
Mr Camerons Ex-Koalitionspartner, die Liberal Democrats, haben sich
in fünfjähriger Koalition mit den Tories erfolgreich (und vielleicht
nach deutschem FDP-Vorbild) politisch überflüssig gemacht. Sie haben ihr
schlechtestes Ergebnis in Jahrzehnten erzielt und stürzten ins
praktisch Bodenlose: Sie verlieren über vierzig Mandate und kommen mit
viel Glück auf zehn Sitze im nächsten Parliament.
Ein Reihe Kabinettsminister hat diesen Sturz nicht überlebt: Vince
Cable, Ed Davey und viele weitere Prominente wurden von den Wählerinnen
und Wählern in die Wüste geschickt. Paddy Ashdown hatte bereits in der
Nacht im TV angekündigt, er werde seinen (nicht vorhandenen) Hut essen,
wenn seine Partei tatsächlich so schlecht abschneidet, wie die
Exit-Polls zu der Zeit prognostiziert. Nun, nachdem sich herausgestellt
hat, dass die Realität für die Lib Dems wesentlich schlimmer ist, als
vorhergesagt, müsste Mr Ashdown eigentlich zwei Hüte essen, wenn er
weiterhin sein Wort wert sein will.
Nick Clegg MP, zuletzt Vize-Premier, wurde in seinem Wahlkreis
offenbar nur durch die taktische Unterstützung jener Tory-Wähler
gerettet, die Labour verhindern wollten. Und auch das geschah vielleicht
nur, damit Mr Clegg sein politisches Harakiri heute oder später zur
besten Jahreszeit inszenieren kann, wenn er seinen Rücktritt von allen
Party-Ämtern verkündet. Mr Clegg bezeichnete das Ergebnis bereits in der
Nacht öffentlich als „cruel punishment“; eine „brutale Bestrafung“.
Die Entwicklung in Schottland war absehbar: Seit gestern ist die
Gegend nördlich des Hadrian’s Wall auch offiziell Ein-Parteien-Staat.
Die Schottische National Partei schickt 56 Abgeordnete nach Westminster,
alle anderen großen Parteien jeweils einen! Der Vorsitzende,
Alex Salmond, und sein First Minister, Nicola Sturgeon, feierten dieses
Resultat in den letzten Stunden als Triumph der Demokratie; denn
Demokratie ist ja, wenn alle einer Meinung sind, nicht wahr?
Der nach den Lib Dems zweitgrößte Verlierer der britischen
Parlamentswahlen ist der demokratische Arme der britischen
Gewerkschaftsbewegung: Labour, der britischen Sozialdemokratie, ist es
nicht gelungen, der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler die
Persönlichkeit ihres auch intern als steif und stoffelig verschrienen
Spitzenkandidaten, Mr Miliband, schmackhaft zu machen: Der glücklose
Kandidat sagte bereits im TV, er sei „deeply sorry“, was nur als
Rücktrittsangebot verstanden werden kann.
Vor allem ist es Labour nicht gelungen, eine Mehrheit der Bevölkerung
von politischen Vorstellungen zu überzeugen, die im Wesentlichen auf
einer Rolle rückwärts in die sozial-ökonomischen Realitäten der
turbulenten 70er bestanden hätten: Mehr Schulden, mehr Staat, mehr
Steuern. Labour verschlechterte sich gegenüber dem Ergebnis von 2010
deutlich und kommt wahrscheinlich nicht über 260 Mandate – weit entfernt
von jeder vernünftigen Aussicht auf eine Regierungsverantwortung und
eine eindeutige Niederlage.
Die bittere Lektion, die eine offensichtlich völlig realitätsferne
Labour-Partei nun lernen müsste: in der britischen Öffentlichkeit
besteht kein nennenswertes Interesse daran, die verlorenen Schlachten
vergangener Tage noch einmal zu schlagen. Aber ich schätze,
Labour-Fanatiker wie Gewerkschafts-Boss und Labour-Sugar-Daddy Len
McCluskey („Unite“) sehen auch das als „Thatchers Schuld“?
Ein Wort der Vorsicht betrifft das Ergebnis der euroskeptischen UK
Independence Party. Es gelang ihr bisher nicht, mehr als ein Mandat zu
erringen (Clacton-on-Sea, Mr Carswell MP). Es gelang ihren Kandidaten
allerdings, sich im sozialdemokratisch kontrollierten Norden erfolgreich
als wesentliche Opposition gegen Labour zu etablieren, oft mit besseren
Ergebnissen als die Tories. Es gibt keinen Preis für den zweiten Platz,
aber im Fall dieser noch im Aufbau befindlichen Partei kann sich das
als wichtige Ausgangsbasis in kommenden Wahlen und Referenden erweisen.
Den britischen „Greens“ ist es gelungen, das Mandat aus „ihrer“
politischen Parallel-Welt Brighton Pavillon zu erneuern und sogar ein
wenig zu verbessern. Zuvor hatten die britischen Ökopathen vor allem
durch missglückte öffentliche Auftritte ihrer Spitzenkandidatin, Mrs
Bennett, auf sich aufmerksam gemacht, die sich offensichtlich keine
Zahlen merken kann; das ist natürlich eine super Voraussetzung für eine
Funktion in öffentlichen Ämtern...
Während in vielen Wahlkreisen weiter gezählt wird, zeichnet sich für
Mr Cameron eine knappe absolute Mehrheit ab. Sollte seine Partei nicht
auf die erforderlichen 326 Sitze kommen, ist eine Koalition mit der
nord-irischen Democratic Union Partei absehbar, die 10 Mandate für sich
entscheiden konnte.
PS
Es freut uns außerordentlich, dass George Galloway im nächsten
Parliament nicht mehr enthalten sein wird. Sein Wahlkreis Bradford-West
hat sich für das kleinere der beiden Übel entschieden und mehrheitlich
für Labour gestimmt. Wir wissen nicht, welchen neuen "politischen"
Wirkungskreis „Gorgeous George“ sich suchen wird. Vielleicht macht er
Karriere in Ramallah, vielleicht wird er ständiger Nah-Ost-Experte der
BBC, vielleicht erbt er einen Biraderi-Clan; zurzeit scheint das alles
gleichermaßen aussichtsreich.
haolam
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