In einem Büchlein hat Gaddafi die Topografie seiner Psyche verewigt. Schonungslos wie kein Tyrann vor ihm.Von Urs Gehriger
Die ewige Frage nach der Tyrannenseele, alle Welt stellt sie dieser Tage wieder. Jedes Wort, jede Regung Gaddafis wird gedeutet. Seine eroberten Paläste werden nach Hinweisen durchforstet, Schlafzimmer, Toiletten und Atombunker (Schweizer Bauart) nach Spuren abgesucht, die auf das Innenleben des Diktators deuten könnten.
In einem knappen, kaum beachteten Werk hat der Wüstenherrscher 1993 die Topografie seiner Psyche aufgezeichnet.
Allein der Titel . . . man muss ihn auf der Zunge zergehen lassen: «Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten». Zwölf Essays über das seelenlose Leben im Grossstadtmoloch, die Grösse der göttlichen Schöpfung und die Einsamkeit des Herrschers, gehalten alternierend in stampfendem Furor, amüsanten Diatriben und beissendem Spott (Auf Deutsch bei Belleville, München).
«Mein Volk liebt mich», sagte Gaddafi noch Anfang dieser Woche im Interview mit Christiane Amanpour. «Es werden alle sterben, um mich zu beschützen.»
In seinem Buch erfährt man, wie er wirklich denkt. «Die Massen lieben dich, aber Erbarmen mit dir haben sie nicht . . . Ich fühle, dass sie mich verfolgen, verbrennen.» Seine Offenbarungen sind ein Protokoll der Paranoia, ein Zeugnis der abgrundtiefen Verachtung eines Regenten für seine Untertanen, deren bewundernde und fordernde Schreie ihm in den Ohren hallen. «Selbst wenn sie klatschen, habe ich das Gefühl, dass sie mit dem Hammer schlagen», schreibt er und sprüht ihnen seinen Ekel entgegen: «Euer Atem belästigt mich, zwingt mich zur Einsamkeit, vergewaltigt meine Persönlichkeit, sucht mit Heisshunger und wilder Gefrässigkeit mich auszupressen, meinen Schweiss zu lecken und meinen Atem zu saugen.»
Bar jeder Illusion
«Flucht in die Hölle» heisst dieses Schlüsselstück des Werks, neun Seiten kurz, aber ein Monument von Luzidität. Andere Diktatoren waren von literarischen Ambitionen ebenfalls nicht verschont. Saddam Hussein hat sich in «Zabiba und der König» als Romancier versucht und ersäufte den Leser in zähflüssigem Sentimentalsirup. Gaddafi dagegen wahrt den kalten Blick, abgeklärt und im Kern bar jeder Illusion. Kein Autokrat seit Sumer und Akkad hat einen ähnlich ehrlichen Text verfasst.
Bei Gaddafi ist die Hölle ein kühler Zufluchtsort, wo der gehetzte Herrscher endlich Ruhe findet vor den Qualen des Diesseits. Ruhe auch, um über den Tod zu sinnieren. Die Frage, ob der Tod männlichen oder weiblichen Geschlechts sei, bewegt Gaddafi besonders. Er müsse weiblich sein, kommt er zum Schluss, weil sein eigener Vater sich ihm «kampflos» ergeben habe. «Wild und kühn», sei er, «aber auch listenreich und feige». Die Macht des Todes liege «in seinem teuflischen Blutdurst». Ihm liege «nichts an friedlicher Koexistenz», ahnt Gaddafi. «Der Tod ist das Ende aller Freuden.»
Und keiner könne ihm entfliehen, der Herrscher schon gar nicht. «Der Despot ist ein Einzelner, den die Gemeinschaft beseitigen kann», schreibt er, «ja sogar ein unbedeutendes Individuum kann ihn, womit auch immer, beseitigen.»
Sic semper tyrannis.
Muammar Gaddafi: Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten. Belleville. 168 S., Fr. 30.50
weltwoche.ch
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