von Gerrit Liskow
Ich kann mich an Detroit in den 80ern erinnern. Wenn man damals aus den schattigen, gepflegten Vororten in die Innenstadt kam, musste man meilenweit durch runtergekommene Viertel fahren, in denen die Häuser entweder mit meterhohen Eisengittern umgeben waren (wenn sie noch bewohnt wurden) oder Bretter vor den Fenstern hatten (wenn sie bereits unbewohnt waren). An Häuser mit eingeschmissenen Scheiben und Brandspuren an der Fassade kann ich mich nicht erinnern, aber es hieß bereits damals, Detroit sei bankrott, Pleite, kaputt, unrettbar und unbezahlbar. Dass man zu Fuß nicht auf die Straße gehen konnte, wenn man nicht lebensmüde war. Dass man als Opfer eines bewaffneten Raubes in den back alleys der Innenstadt für ein paar Dollar fünfzig erschossen wurde. Dass man eigentlich nur mit einem gepanzerten Wagen und einem kleinen Aufgebot an Bodyguards überhaupt „safe“ in diese Stadt fahren konnte. Kurz: Detroit war bereits Mitte der 80er ein Platz zum Weglaufen, nicht zum Hinziehen, und ganz egal wie bescheiden die ökonomischen Verhältnisse waren, zog jeder aus Detroit weg, so schnell er konnte, irgendwo in den üppigen, reizvollen Grüngürtel, in die reichlich vorhandenen Wälder und an die ebenso üppigen Seen im Umland.
Das geschah nicht über Nacht. Bereits in den 60ern zeichnete sich in Detroit, und in den übrigen USA, eine Gezeitenwende ab. Aus dem Land jener unbegrenzten Möglichkeiten, die immer schon die Eventualität phänomenalen Erfolgs ebenso einschlossen, wie das Potenzial kolossalen Scheiterns, wurde ein Sozialstaat. Der „links“-staatliche Komplex, jene selbstzweckhafte Gemengelage aus „Bildungs“-Einrichtungen, Gewerkschaften, Partei(en) und Staat, das EU-Europa die „soziale“ Marktwirtschaft des fröhlich-rheinisch akkumulierenden „Kapitalismus“ beschert hatte, begann die USA zu packen und verwandelte sie in ein Schlaraffenland aus staatlichen und kommunalen Benefits & Entitlement. Nichts, was auch nur annähernd so komfortabel war, wie die deutsch-europäische Hängematte, aber dennoch ein epochemachendes Ereignis, denn plötzlich war es in den USA möglich, etwas für gar nichts zu bekommen. Und diejenige amerikanische Metropole, die auf dem Pfad dieser Gesetzgebung am „progressivsten“ wurde, war diejenige Stadt, die auch sonst am weitesten fortgeschritten war, vor allem in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung: Detroit war in den 60ern immerhin die reichste Stadt des reichsten Landes der Erde. Man kann es kaum glauben, wenn man heute diese Fotos sieht.
An vorderster Front der „progressiven“ Politik standen die Agenten und Agenturen des Staates. Endlich war es den Beamtinnen und Beamten möglich, sich schamlos und ohne jede Skrupel aus Steuereinnahmen zu bedienen. Die öffentlichen Dienste verwandelten Detroit in einen Selbstbedienungsladen und zwar über die Gegenwart hinaus, denn selbstverständlich genehmigte die Staats-„Elite“ sich üppige Ruhestandsgehälter für die Zeit nach dem aktiven „Dienst“ (der schon damals nicht sein Geld wert war, und vor allem nicht „aktiv“ zugebracht wurde). Ergebnis Nummer eins: von den elf Milliarden Schulden, die die Stadt heute hat, entfallen neun Milliarden auf die Ruhegehälter ihrer Beamtenschar. Ergebnis Nummer zwei: Um diesen Fehlbetrag zu kompensieren, wurde das „Niveau“ kommunaler Leistungen sukzessive – im Laufe von zwei, drei Generationen – auf ein Level reduziert, das man sonst nur aus Zimbabwe kennt.
Es versteht sich von selbst, dass jene Hälfte der Detroiter, die die andere Hälfte finanzieren sollte, bemerkenswert unsympathisch auf diesen neuen, „progressiven“ Gesellschaftsvertrag anzusprechen war. Bereits in den 60ern zog man aus der Stadt weg; eine Stadt, die abgesehen vom central business district eine durch und durch suburbane Angelegenheit aus freistehenden Einfamilienhäusern war, a.k.a. „The American Dream“. Man zog weg - zumindest, wenn man keinerlei Veranlassung verspürte, über steigende Steuersätze eine schamlos kleptokratische Beamtenschaft zu finanzieren, die jene tatsächlich oder auch nur vermeintlich Bedürftigen als menschliche Schutzschilde missbrauchte, um ihre „politischen“, vor allem aber ihre persönlichen und privaten Ziele durchzusetzen. Bedürftige, die sich die Elite von Partei(en) und Staat zu ihren „politischen“ Zwecken herangezüchtet hatte.
Man zog weg in einer Abstimmung mit den Füßen gegen jenen selbstzweckhaften Müßiggang, der bald zu jenem allgemein verbindlichen Lebensstil werden sollte, auf den jeder einen „politischen“ Anspruch hatte. Es war in den 60ern und 70ern eine ganz schlichte Rechnung: Wenn man allein durch den Umzug über die Stadtgrenze jedes Jahr einen vierstelligen Dollarbetrag sparen konnte, wäre man blöd, das nicht zu tun. Ein vierstelliger Dollarbetrag, daran sei an dieser Stelle erinnert, war in den 60ern immer noch viel Geld, für viele abhängig Beschäftigte ein 13. und 14. Monatsgehalt. So setzte sich die Karawane in die schattigen, grünen Vororte in Bewegung, an die Seen und Waldränder Michigans (das man sich in etwa wie Südschweden vorstellen muss, nur viermal so groß). Platz war genug, Land war billig, schön war es auch und der Weg an den Arbeitsplatz in der Innenstadt ließ sich anfangs in unter einer halben Stunde zurücklegen; heute verbringt man meist anderthalb Stunden im Verkehr.
Das Missverständnis der „europäischen“ Häuschen-im-Grünen-Bewegung bestand übrigens darin, dass man hierzulande immer dachte, die Amerikaner wollten nur deshalb so gerne auf dem Lande wohnen, weil sie solche Naturburschen wären. Nichts lag ihnen ferner – sie wohnten suburban um Steuern zu sparen und den Wert ihrer Immobilien zu retten. Denn warum würde man in einer Stadt wohnen bleiben, in der der Wert der eigenen Wohnverhältnisse bereits in den 60ern fiel? Und zwar auf eine Art und Weise, die bereits damals einen Fall ins Bodenlose andeutete? Wer sein Haus in Detroit früh genug verkaufen konnte, am besten in den 60ern, war froh. Denn mit jeder Dekade, die verstrich, konnte man sicher sein, dass man immer mehr dabei draufzahlte. Wer in den 60ern kaufte und erst in den 80ern verkaufte – als es nicht mehr zu leugnen war, dass Detroit eine Katastrophe ist, die nur noch auf ihren Ausbruch wartete – wurde mit einem Schlag mindestens die Hälfte seines Vermögens los. Und musste dennoch verkaufen, allein schon, um wenigstens die andere Hälfte seines Kapitals zu retten. Inzwischen bekommt man um die 150qm in Detroit für nicht mal einen Dollar, aber in der „Occupy“- und Hausbesetzerszene ist die Stadt dennoch nicht beliebt - warum nur?
Eine schwierige Situation in einem Land ohne nennenswerte staatliche Sozialversicherungen. In einem Land, in dem die unbegrenzten Möglichkeiten die Eventualität kolossalen Scheiterns ausdrücklich beinhalten. Die Abwärtsspirale, die durch den Bankrott der Stadt Detroit jetzt zu ihrem vorläufigen Ende kam (irgendwer wird diese failed city, dieses US-Griechenland schon „retten“), begann in den 60ern, unter den Vorzeichen einer neuen sozialen Mobilität und „progressiven“ Sozialgesetzgebung, die den Staat in einen Selbstbedienungsladen verwandelte. Eine Kleptokratie, in der sich die öffentlichen Dienste üppige Gehälter und Pensionen genehmigten, autorisiert von jener automatischen Mehrheit aus tatsächlich und vermeintlich Bedürftigen, die das Produkt dieses zum Scheitern angelegten „politischen“ Gesellschaftsvertrags war, den die selbsternannten „progressiven“ Eliten in Partei und Staat so überaus selbstzweckhaft propagierten und exekutierten.
Dafür steht Detroit, und in diesem abstrakten Sinn ist Detroit tatsächlich überall. Als eine Fußnote sei an dieser Stelle erwähnt, dass der Ruin dieser Stadt keineswegs den Ruin einer bestimmten, angeblich „kapitalistischen“ Produktions- und Reproduktionsweise ankündigt. Dem Kapitalismus an sich und als solchem geht es weiterhin wunderbar, vielen Dank, nur eben nicht dort, wo er „progressiv“ geworden ist. China baut derweil das höchste Gebäude der Welt (ja, noch ein Stückchen höher als der Burdj al-Khalifa) - wie um uns alle in einer einmaligen Ironie daran zu erinnern, dass eine liberale Wirtschaft und eine liberale Gesellschaft jene beiden Seiten einer Medaille sind, von denen die eine nur um den Preis der anderen zu haben ist. Offensichtlich fällt es einer Politbüro-Diktatur leichter, dieser Idee zum Erfolg zu verhelfen, als den Agenturen von Freedom & Democracy, was für Letztere ausdrücklich nichts Gutes vermuten lässt. Wie hieß es doch am Freitag bei Twitter? „Wenn Obama eine Stadt hätte, hieße sie Detroit“. Nicht, dass das nicht auch mit Mutti hätte passieren können.
haolam
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