Der New Yorker Autor Tuvia Tenenbom ist vermutlich der beste modern
Ethnologe der Welt. In seinen Büchern “Allein unter Deutschen” und
“Allein unter Juden” (demnächst: “Allein unter Amerikanern”) nimmt er
einfach alles in sich auf, was er sieht und hört, scheinbar naiv wie
eine Grimmelshausen-Figur, um die einzelnen Teile dann zu einem
erstaunlich luziden Bild zusammenzufügen. Kürzlich reisten er und seine
Frau Isi Tenenbom wieder einmal durch Österreich und Deutschland. Isi,
ebenfalls eine Ethnologin der reinen Beobachtung, schickte mir
folgenden kleinen Text:
Im ICE nach Österreich
Ich stand im Zug Richtung Österreich neben zwei Irakern. Der eine besaß
eine Fahrkarte, der andere nicht. Der Iraker ohne Fahrschein schwor, er
hätte eine gehabt, ihm ware aber leider alles abhanden gekommen, auch
das Ticket. Außerdem hätte er kein Geld für sowas, er erhalte doch nur
114 Euro im Monat, die Karte wäre zu teuer. Die Schaffnerin bestand
trotzdemauf einer Fahrkarte und fragte ihn nach seinem Ausweis. Da er
keinen vorweisen konnte, gab er an, bei seinem Bruder, dem zweiten
Iraker zu wohnen. Auf die Frage nach dessen Wohnadresse, sprich
Zustelladdresse für die Fahrkartenrechnung, war er plötzlich nicht mehr
sein Bruder.
Nach einem ewigen Hin und Her, zu dem sich dann auch noch der
Zugführer und ein Polizist gesellten, übergab er einen Zettel mit einem
Namen, und die Schaffnerin händigte ihm die Rechnung aus.
Er solle sie zu einem späteren Zeitpunkt bezahlen.
Er nahm die Rechnung, schüttelte den Kopf, grinste und zerknüllte sie verächtlich vor aller Augen.
Danach schimpfte er auf Deutschland, dass er dieses Land nicht möge und nur gekommen sei, weil zwei seiner Kinder hier wohnten.
Als ich die Bahnbediensteten darauf ansprach, entschuldigten sie sich
bei mir wegen des Vorfalls – sie täten doch nur ihre Pflicht, ich
sollte nur warten bis wir Passau erreichten, was da alles los wäre.
Als ich ein Foto des Spektakels schoß und weitere Fragen stellte,
wurde ich belehrt, dass die Deutsche Bahn eine AG sei, ich mich auf
private Boden befände und kein Recht hätte sie bei ihrer Arbeit zu
fotografieren.
Unter Aufsicht der Polizei musste ich mein Foto löschen. Danach
wurden meine Personalien aufgenommen, für den Fall, dass ich irgendetwas
über das Geschehenen veröffentlichen wollte und heimlich schon ein Bild
in der Cloud gelagert haben sollte.
Die beiden Iraker stiegen unbehelligt aus.
Siehe auch: http://www.welt.de/politik/deutschland/article120852781/Die-Dame-von-der-Bahn-verweigert-die-Bedienung.html
achgut / Alexander Wendt
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