Wednesday, June 04, 2014

Mehreuropa: Mit Volldampf in die Sackgasse

von Gerrit Liskow
Eine Woche nach dem bislang herbsten Rückschlag, den „Mehreuropa“ im Laufe seiner über sechzigjährigen Durchsetzungsgeschichte einstecken musste, ist weiterhin der Euro-Vorhang zu und manche Frage offen.
Das Kommentariat der in Deutschland veröffentlichten Einheitsmeinung flüchtet sich noch immer in die Wunschvorstellung, die Bevölkerung hätte sich einfach nur verwählt – kein Anschluss unter dieser Nummer?
Der offiziellen EU-Polit-Kaste ist anzusehen, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht, als plötzlich aufzuwachen und festzustellen, dass das alles nur ein böser Traum gewesen ist. Stattdessen müssen sie nun fürchten, es könnte ihnen einmal so ergehen wie der Gandhi-Dynastie in Indien, die ebenfalls von einem politischen Monsun aus dem Amt gespült worden ist.
Der deutsche Sozialdemokrat an sich als solcher - im Ausland so beliebt ist wie ein juckender, nässender Hautausschlag - hat immer noch nicht kapiert, warum es nichts wird mit seinem Posten bei der EU. Aber Martin Schulz bleibt bestimmt nicht lange arbeitslos. Vielleicht muss ja in Kleinbumsdorf bald mal ein neuer Bürgermeister gewählt werden!
Es ist offensichtlich, dass der politische Extremismus auf dem europäischen Kontinent eine Folge der wirtschaftlichen Dauermisere der EU ist. Nach sechs Jahren unfähiger Euro-Rettung-Versuche liegt das Bruttoinlandsprodukt von Italien und Spanien noch immer 8 bis 12% unter dem Niveau vor Ausbruch der Krise in 2008. Und das ohne Aussicht darauf, dass irgendwann Besserung eintritt. Im Gegenteil: Die nächste Krise kommt bestimmt. Spätestens, wenn das Kapital wieder teurer gemacht wird.
Durchschnittlich 20% Jugendarbeitslosigkeit in der EU bedeuten für Millionen junger Menschen fehlende Zukunftsperspektiven. Für die Gesellschaft ist es eine verlorene Generation. Ein Blick auf die panarabischen Unruhen zeigt, wohin sowas führt. Allen Durchhalteparolen aus Brüssel zum Trotz nimmt der aktuelle Wirtschaftsverlauf in Frankreich wieder rezessive Züge an (in den Niederlanden schrumpft die Wirtschaft seit dem ersten Quartal), aber der Mössjöh im Elysee möchte erst noch seine Amtszeit zu Ende regieren, bevor sich in Frankreich wieder was ändern darf; das Wahlergebnis vom letzten Sonntag ist hinsichtlich Neuwahl kein Anlass zu Optimismus.
Die Dauermisere der EU ist nicht bloß Effekt der Subprime-Krise, denn die betraf so gut wie alle Wirtschaftsräume dieser Welt. Dennoch liegt die Wirtschaftsleistung in den USA nach sechs Jahren Krise satte 8% über dem Stand des Jahres 2008. In Großbritannien werden dieses Jahr 3,4% Wirtschaftswachstum erwartet, fast doppelt so viel wie in Deutschland. Die Eurozone schlägt sich auffallend schlecht in allen einschlägigen Rankings und inzwischen kann das nicht mehr allein der Lehman-Pleite geschuldet sein, sondern es muss endemische Ursachen haben, nicht zuletzt beim Krisenmanagement der offiziellen „Politik“ in Brüssel und Berlin.
Der eigentliche Skandal aber besteht darin, dass die Öffentlichkeit bereits gelernt hat, über die EU-Misere hinwegzusehen und den Status Quo, den gescheiterten Freilandversuch namens Euro-Zone, als gegeben hinnimmt. Die verbrannte Erde, die in der EU angerichtet wurde, nicht zu hinterfragen und nach Möglichkeit auch noch schönzureden, empfiehlt sich vor allem dann, wenn man beim Staatfunk in Lohn und Brot bleiben will.
Hat sich „Mehreuropa“ die gesellschaftlichen Sachzwänge so eingerichtet, wie es sie braucht, um nun eine noch repressivere Phase der „europäischen Einigung“, des Euro-Nationalismus, einzuläuten? Es fällt schwer, zu glauben, dass wirklich alles an der aktuellen Lage nur dummer Zufall oder schlichte Unfähigkeit gewesen sein soll.
Am leichtesten fällt der Umgang mit dem Status Quo offenbar in Germany. Dort ist man davon überzeugt, es ginge einem super. Man macht weiter, als wäre nichts passiert, und muss nicht mal im Walde pfeifen. Die andern „Europäer“ sind aus deutscher Sicht bloß undankbar für „Europa unter deutscher Führung“ und haben sich am letzten Sonntag dreist verwählt – kein Anschluss unter dieser Nummer, wie gesagt.
Germanys Wunschpartner als EU-Kommissionspräsident war zuletzt Jean-Claude „Ein Nein ist kein Nein“ Juncker, Erzföderalist und Vater der EU-Verfassung. Selbige sorgt maßgeblich dafür, dass alle politische Macht der EU-Kommission zugeschanzt wird und dem Souverän in den Mitgliedstaaten, sprich: der Bevölkerung, keine demokratische Funktion mehr bleibt; auf EU-Ebene hatte sie sowieso nie welche.
Warum schaffen „unsere Freunde in Europa“ die Einwohnerinnen und Einwohner nicht einfach ab, liebe Bundeskanzlerin? Sie haben doch für die Bevölkerung so oder so keine Verwendung in „Mehreuropa“ unter deutscher Führung.
Letzte Überreste der Demokratie, wie wir sie kennen, sind die ausgeweideten Parlamente in den Mitgliedstaaten. Die Parlamente in den Mitgliedstaaten werden in Zukunft sogar noch weniger zu sagen haben werden, als das EU-Parlament in Brüssel und Straßburg. So bestimmt es zumindest die „EU-Verfassung“, die zwischen November 2014 und März 2015 stufenweise in Kraft treten wird. Merke: Politik ist viel zu wichtig, um sie den kleinen Leuten zu überlassen, nicht wahr, Herr Juncker?
Vor diesem Hintergrund sind die politischen Vorgänge in Großbritannien nur eine Randnotiz. David Cameron, Premierminister, hatte bereits am Wochenende durch ein deutsches Nachrichtenmagazin ankündigen lassen, ein Mr Juncker sei mit ihm nicht zu machen.
Das scheint deutlich für die Galerie gespielt, denn an wenig ist Mr Cameron so interessiert wie daran, seinen EU-kritischen Budenzauber aufzupolieren. Jeder in seiner Heimat weiß, dass der britische Premierminister in etwa so EU-kritisch wie ein Interrailticket ist.
Sollte der konservative Kandidat bei den Nachwahlen in Newark am Donnerstag eine Schlappe kassieren (was nicht so unwahrscheinlich ist, wie Lord Ashcrofts aktuelle Umfragen es aussehen lassen), und die euroskeptische UK Independence Party einen MP nach Westminster schicken, ließe sich die Stimmung in der Bevölkerung auch bei den Tories nicht mehr so leicht ignorieren und mithilfe der veröffentlichten Meinung als Sturm im Wasserglas ausgeben.
Dass Mr Camerons Juniorpartner, Nick Clegg, in der letzten Woche bei einer Palastintrige aus den eigenen Reihen Kap Heister zu gehen drohte, und der Kandidat der Labour-Konkurrenz nicht mal ein Schinkensandwich essen kann, ohne, dass es peinlich wird, sollte die offizielle „Politik“ vor weiterer Selbstüberschätzung warnen.
http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/ed-miliband-fails-to-look-normal-while-eating-bacon-sandwich-ahead-of-whistlestop-campaign-tour-9409301.html
Jaja, das Schinkenbrot. Daran wird Mr „Red Ed“ Miliband noch lange knabbern. Aber auch seine Versuche, das Labour-Wahlprogramm auf eine griffige Formel zu bringen (erstmal noch ohne, dass David Axlerod ihm was vorsagen muss), haben nichts als Perlen toter Sprache produziert. Deren schillerndste: „One Nation“ – samt Umverteilung und Steuererhöhung; Korporatismus auf Valium.
Aber nehmen wir mal, nur für einen Moment und wider bessere Wissen, an, Mr Cameron meinte es ernst beim Thema „wir haben verstanden“. Will er jedes Mal sein Spielzeug aus dem Kinderwagen werfen, wenn er seinen EU-Willen nicht bekommt? Er gilt bereits als das Enfant terrible der EU. Wird er irgendwann lernen, dass man nicht immer zum Messer gehen kann, bis es sticht? Vorausgesetzt, er bleibt nach 2015 Premierminister...
Jeder, der sich aus dem Ausbund an politischem Extremismus und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit verabschieden kann, der aus „Europa unter deutscher Führung“ wurde, sollte sich glücklich schätzen.
Womit sich die Frage stellt, wie es jetzt weitergehen soll. Da fragt man sich nach dem Wahlergebnis in Frankreich zunächst mal, ob Deutschland mit einem Juniorpartner, der mehrheitlich Front National wählt, in Europa weiterhin Staat machen kann.
Dass Berlin das will und vor Marine Le Pen nicht zurückschreckt, versteht sich von selbst. Bekanntlich hat selbst die Kollaboration mit neofaschistischen Kräften im Fall des Maidan-Putsches in Kiew die Behörde am Werderschen Markt nicht davon abgehalten, deutsche Außenpolitik zu machen; der Zweck heiligt die Mittel und einen hehreres Ziel als die endgültige Durchsetzung der Euro-Nationalismus kann es aus deutscher Sicht nicht geben, nicht wahr, Frank-Walter Steinmeier (SPD)? Kommt auch der nächste Faschismus wieder von „Links“?
Lässt sich endlich mit Fug und Recht behaupten, man sei „Europäer“ geworden, werden die Schrecken der deutschen Identität - endlich, endlich! - in einer emotionalen Schwabbelmasse namens „Europa“ entsorgen. Oder ist das mit dem Schlussstrich vielleicht doch eine emotionale Kindergartenrechnung?
Das ist der Lohn, den sich wiedergutgewordene Deutschinnen und Deutsche von der „europäische Einigung“ versprechen. Das macht das „Projekt Europa“ aus Sicht bestimmter uffjeklärter Milieus so attraktiv und relevant: endlich ohne Schuld zu werden. Te absolvo!
Endlich nicht mehr sagen zu müssen, man sei deutsch, endlich sagen zu dürfen, man sei „europäisch“. Und endlich nicht mehr für die vorübergehende Befreiung vom Faschismus dankbar zu sein. Diesen emotionalen Luxus lässt die „politische“ Kaste man nicht nur sich selbst, sondern vor allem Dritte gern etwas kosten.
In dieser Woche jährt sich die Landung in der Normandie zum 70ten Mal. Es ist Germany dieser Tage nicht anzusehen, dass das für das wiedervereinigte, „wiedergutgewordene“ Land der ewigen Fußballweltmeister ein wirklicher Grund zur Freude wäre.
Ich möchte nicht behaupten, dass die unsäglichen Opfer der West-Alliierten und der SU im deutschen Interesse erbracht worden wären. Zum einen würde man damit Spott auf Schaden schütten. Zum andern ging es in der Anti-Hitler-Koalition zunächst mal ums eigene Überleben und das musste es auch.
Und 70 Jahre später fragt man sich in Germany nicht mal mehr: Warum sollte man sich über die Befreiung vom Faschismus freuen? Warum von der Landung in der Normandie begeistert sein? Nicht einmal die damalige Chefin der Evangelischen Kirche konnte „eine gerechte Sache“ im Sieg über den Faschismus erkennen.
Schreiben die prototypischen Repräsentanten und Identifikationsfiguren aus den uffjeklärten Milieus in den Fragebogen vom FAZ-Magazin nicht nur zu gerne, sie würden keine militärische Leistung der Weltgeschichte bewundern? Waren etwa nicht alle Deutschinnen und Deutschen ab einem gewissen Grad Pazifisten, nämlich ab einem gewissen Stalingrad?
Wenn das alles so klar ist, und das ist es ja angeblich, warum kommt man sich dann in Germany immer so vor, als wäre man mitten auf einer Beerdigung gelandet? In den „politisch bewussten“ Vierteln vieler Großstädte verfolgt einen dieses Gefühl das ganze Jahr, bis in Alpträume. Was macht viele Menschen bloß so krank in diesem Land? Ja, was kann es wohl sein? Es ist doch nicht allen das schlechte Essen, oder? Antworten bitte auf einer Postkarte.
Man würde bei einem Blick auf Germany beim besten Bemühen nicht denken, dass dieses Land glücklich ist. Um es mit einem Filmzitat zu sagen hat es: „jeden Grund glücklich zu sein – außer Glück“.
Vor allem ist den meisten nicht bewusst, dass die wirtschaftlichen und sozialen Freiheiten, die sie heute genießen, unsägliche Opfer kosteten. Opfer, die zwar nicht um ihrethalben erbracht worden sind, die ihnen aber heute zugutekommen.
Opfer, die die staatstragende Kaste sich im Fall der Shoah nicht schämte oder schämt, auch noch ein zweites Mal emotional und ökonomisch auszuschlachten: in der Lüge von der „Aufarbeitung“ der deutschen Vergangenheit.
Und es scheint den meisten nicht mal ansatzweise begreiflich zu sein, was für ein Geschenk ihnen durch ihre Befreiung aus der vorläufig letzten faschistischen Episode ihrer Geschichte zuteilwurde; bedankt hat sich offiziell noch keiner.
Man hat den Eindruck, dass die Notwendigkeit einer Befreiung von außen nicht nur damals bekämpft wurde, sondern auch heute noch, wenn überhaupt, nur widerwillig eingestanden werden kann. Vermutlich, weil sie nach wie vor eine narzisstische Kränkung bedeutet.
Aber nicht mal auf die Idee zu kommen, dass die drei größten Katastrophen der Menschheit (zwei Weltkriege und ein Holocaust) etwas mehr gedanklicher Anstrengung und emotionaler Auseinandersetzung bedürften, als eine selbstmitleidige Ausstellung im Haus der Deutschen Geschichte und ein paar Wiederholungsfolgen Guido Knopp – das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Jämmerlichkeit der offiziellen Gedenkpolitik und die herrschende Mentalität in diesem Land.
Man ist in der offiziellen deutschen Gedenkpolitik in den hundert Jahren seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mal auf die Idee gekommen, jener Toten angemessen zu gedenken, die deutsche Großmachtphantasien in Europa und auf der ganze Welt verursacht haben.
Umso irrsinniger erscheint es mir, dass die nächste europäische Katastrophe vorbereitet wird, als ob nie was gewesen wäre: die Ausplünderung und Zerstörung eines halben Kontinentes im Namen von „Mehreuropa“. Will es anschließend auch wieder keiner gewesen sein?
haolam

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